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- Film »Letzter Abend«
Mittelschicht im Brennglas
Der Film »Letzter Abend« bringt in pointierten Dialogen die Leidenschaften und Konflikte der Millennial-Generation zum Ausdruck
Es war nicht alles schlecht im Lockdown. Wobei auch und gerade Schauspieler die Zeit, in der sie ihres Publikums beraubt waren, als existenzielle Krise empfunden haben dürften. Dann wäre aber eben auch dieses Kleinod von Kammerspiel nicht entstanden, mit dem eine Gruppe junger Darsteller des Staatstheaters Hannover die coronabedingte Dreh- und Theaterpause im Jahr 2020 überbrückte.
Kammerspiel und Lockdown bedingen einander in »Letzter Abend«, womit der Film ein echtes Produkt der Pandemie ist. Es passiert kaum, dass sich die Kamera einmal kurz auf die Straße traut; die Handlung spielt sich fast komplett in der kleinen Hannoveraner Wohnung von Clemens und Lisa ab. Das Paar um die 30 ist gerade am Packen und Ausräumen, denn die Hauptstadt ruft: Lisa ist angehende Ärztin, die an die Charité geht, Clemens ein talentierter, aber von quälenden Selbstzweifeln geplagter Musiker, der sich von der großen Stadt den entscheidenden Wumms erhofft.
Vor dem Umzug richten beide ein Abschiedsessen für ihre Freunde aus. Dieses entwickelt sich, gemäß den Gesetzen des Dramas, natürlich völlig anders als erhofft. Es soll ein schöner letzter Abend in vertrauter Umgebung werden, doch gute alte Freunde sagen kurzfristig ab oder erscheinen viel zu spät. Dafür tauchen ungeladene Gäste auf. Aus dieser ungeplanten Konstellation heraus erhält der Abend eine Eigendynamik, die bisherige Gewissheiten und Lebenslügen infrage stellt und niemanden so entlässt, wie er oder sie gekommen ist.
In pointierten Dialogen entfaltet sich ein Panorama aus Leidenschaften, verdrängten (Beziehungs-)Konflikten, unverhofften Geständnissen und überraschenden Wendungen. Es wird pausenlos geredet, was jedoch nie redundant ist und bis zum Ende spannend bleibt, zumal die behandelten Konflikte durchaus der Lebenswirklichkeit der Generation der Millennials entnommen sind. Das Genre der Tragikomödie erfindet der Film nicht neu und muss sich an Vorbildern wie Polanskis »Der Gott des Gemetzels« (2011) messen lassen, was ihm jedoch mühelos gelingt. Das liegt an einem überzeugenden Drehbuch, das der junge Regisseur Lukas Nathrath gemeinsam mit Sebastian Jakob Doppelbauer verfasste, der auch die Rolle des Clemens spielt. »Letzter Abend« ist Nathraths erster Langfilm.
Ein Film, in dem auf engstem Raum permanent interagiert wird, ist ein eindeutiger Heimvorteil für Theaterschauspieler, die selbiges ja ständig auf der Bühne tun. Die Spielfreude des Ensembles überträgt sich auf die Leinwand und schließlich auch auf die Zuschauer. An Details ließe sich durchaus mäkeln, das Slapstickhafte stört mitunter, manche Figur wirkt überzeichnet, manche Wendung arg konstruiert und dem notwendigen Fortgang des Geschehens geschuldet. Aber die Sorgfalt, mit der die Figuren in der intensiven Zusammenarbeit mit den Schauspielern entwickelt wurden, und der Naturalismus ihres Spiels verleihen dem Film seine innere Spannung.
Durch die Dialoglastigkeit spielen Tempo und Rhythmus sowie die Choreografie im Raum eine wesentliche Rolle. Hier kann »Letzter Abend« eindeutig punkten, was neben den improvisierten Dialogen ebenso an der klugen Montage liegt (Schnitt: Silke Olthoff), die die Handlung energisch vorantreibt, unterstützt von der Kamera, die stets dicht an den Protagonisten bleibt.
Beim Max-Ophüls-Festival für den jungen deutschsprachigen Film im Januar dieses Jahres erhielt Nathraths Debüt verdientermaßen den Preis für die Beste Regie, und wenn man schließlich noch weiß, dass der Film in nur sieben Tagen ausschließlich mit Eigenmitteln gedreht wurde und das Budget lediglich 4000 Euro betrug, stellt sich zwangsläufig die Frage, warum der bürokratische Riesenapparat der Filmförderung in Deutschland so häufig nur mehr gepflegtes Mittelmaß hervorbringt. Seit Langem beklagt die Branche, dass das gegenwärtige System solcherart kreative Energie, wie sie »Letzter Abend« verkörpert, eher ausbremst als fördert. Aber eine Reform ist von Kulturstaatsministerin Claudia Roth ja immerhin versprochen.
Freilich ist auch »Letzter Abend«, wiewohl ein gelungener Film, ein gutes Beispiel für die klassistische Schlagseite des deutschen Filmschaffens, in dem randständige oder prekäre Milieus kaum vorkommen. Von der angehenden Ärztin über den Werbefuzzi, die Kommunikationsexpertin, den verkrachten Musiker, der von altem Geld lebt, den Schauspieler bis hin zur woken Aktivistin ist alles vertreten, was die immer noch gut gepolsterte Mittelschicht an Typologien zu bieten hat – der Pizzabote, der das Essen bringt, hat allerdings lediglich einen slapstickartigen Kurzauftritt.
Letztlich spiegelt das Ungleichgewicht in der Repräsentation unterprivilegierter sozialer Milieus im deutschen Film das Werte-Normativ einer Klassengesellschaft, in der die Wahrnehmung auf die eigene Schicht verengt ist. Das ist kein Vorwurf an die Filmemacher, sondern eine empirische Feststellung, über die man ja mal nachdenken kann.
»Letzter Abend«, Deutschland 2023. Regie: Lukas Nathrath, Buch: Sebastian Jakob Doppelbauer. Mit: Sebastian Jakob Doppelbauer, Pauline Werner, Nikolai Gemel, Isabelle von Stauffenberg, Valentin Richter. 90 Min. Ab 24. August im Kino.
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