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Riots von Paris: Die Verdammten dieser Städte
Ausschreitungen wie in den Banlieues von Paris gelten oft als unpolitische Gewalt. Die Riots sind jedoch Gradmesser der kapitalistischen Herrschaft
Am 27. Juni wurde der 17-jährige Nahel Merzouk in Nanterre, einem Pariser Banlieue, bei einer Führerscheinkontrolle von einem Polizisten erschossen. In den Großstädten und deren Randgebieten führte der Mord an Nahel bis in den Juli hinein zu Demonstrationen und Riots. Die Regierung antwortete mit Ausgangssperren und drastischer Polizeipräsenz. Auch die schwerbewaffnete Sonderpolizeieinheit »Recherche, Assistance, Intervention, Dissuasion« (RAID) wurde eingesetzt. Mindestens eine Person ist inzwischen durch Beschuss der RAID-Polizist*innen verstorben, zahlreiche wurden verletzt. In Frankreich, aber auch in internationalen Medien, folgte eine Diskussion um die Ursachen und Berechtigung der Proteste wie Gewalt.
Kontinuitäten der Gewalt
Der französische Präsident Emmanuel Macron argumentierte, die sozialen Medien und Videospiele seien die Ursache der Eskalation und die Aufstände passierten letztendlich nur aus Gruppenzwang und Nachahmerei. Doch die brennenden Reifen und Autos der französischen Banlieues lassen sich nicht auf unpolitische Teenagerwut reduzieren. Das Aufbegehren muss auch als Reaktion auf eine Lebensrealität begriffen werden, die dauerhaft von sozialer Gewalt bestimmt ist: der Gewalt eines Staates, in dem Jugendliche wie Nahel von Kind auf wissen, dass jede Polizeikontrolle im schlimmsten Fall den Tod bedeuten kann. Es ist eine Gewalt, die von Generation zu Generation Armut und Ausbeutung durchsetzt, die immer wieder – ob in ehemaligen Kolonien, auf dem Mittelmeer oder im Banlieue – deutlich macht, dass Überleben in diesem System nie allen zugestanden wird.
Für die Bewohner*innen der Banlieues ist diese Gewalt alltägliche Realität. Die Vorstellung von einer allgemein friedlichen sozialen Ordnung, in der nur in Ausnahmefällen Gewalt auftritt, ist hingegen nur für eine kleine besitzende Minderheit aufrecht zu erhalten. Deren Sichtweise bestimmt dennoch die öffentliche Diskussion über »die Gewalt« im Zusammenhang mit den jüngsten Riots, richtet sich aber nicht gegen die ebenfalls gewaltvollen Ursachen, sondern fungiert eher als Instrument der weiteren Ausgrenzung gegen spezifische gesellschaftliche Gruppen.
Die Gewalt des Aufstands kommt also nicht aus dem luftleeren Raum. In erster Linie ging es um den Mord an Nahel, um Fälle wie diesen, an denen die alltägliche Gewalt der bürgerlichen Ordnung in ihrer härtesten, tödlichen Form sichtbar wird. Dass sich staatliche Gewalt in Form rassistischer Morde – und der Unterdrückung jeglicher Proteste dagegen – zeigt, ist nicht neu. Taktiken rassistischer Polizeigewalt in Frankreich ziehen sich von der französischen Kolonialherrschaft, insbesondere in Algerien, bis in die Banlieues von heute.
Als 2005 nach dem Mord an Zyed Benna und Bouna Traoré landesweit Riots ausbrachen, deklarierte der damalige Präsident Jacques Chirac einen Ausnahmezustand auf der Grundlage eines Gesetzes, das 1955 zur Zerschlagung des algerischen Befreiungskriegs entstand. Die damit verbundenen Ausgangssperren, verstärkte Bewaffnung der Polizei und der Einsatz von Sonderkräften sind 1955, 2005 und noch heute die Antwort des Staates auf Protest und die Forderung nach Gerechtigkeit. Damit ist die staatliche Regulierung dieser Proteste und Menschen nicht nur abstrakt eine kolonial-verwaltende, sondern speist sich konkret aus selbiger Gesetzgebung.
Banlieues: Ausbeutung und Überschuss
Während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert zogen viele Menschen aus ländlichen Gebieten in die Städte auf der Suche nach Arbeit. Dies führte zu einem rapiden Bevölkerungswachstum und steigendem Bedarf an Wohnraum. Die Städte dehnten sich aus, neue Wohngebiete entstanden am Stadtrand. Die heutige sozialstrukturelle Zusammensetzung dieser als Banlieues bekannten Gebiete wurde durch zwei Wellen geprägt. Der erste große Zuzug geschah kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als das französische Kapital Arbeitskräfte für den Wiederaufbau und das Wirtschaftswachstum des Landes benötigte. Der Staat schloss Abkommen mit verschiedenen Ländern, insbesondere mit ehemaligen Kolonien, um Gastarbeitende ins Land zu holen. Viele dieser Gastarbeiter*innen kamen aus Ländern wie Algerien, Marokko und Tunesien und wurden als billigere Arbeitskräfte in Vororten mit Anschluss zu Produktionsstädten angesiedelt. Die zweite Welle bestand in den 60er bis 70er Jahren in der Migration nach Frankreich aus ehemaligen französischen Kolonien in Afrika, wie Senegal, Mali oder Kamerun, und wurde ausgelöst durch die Befreiungskämpfe in den Kolonien.
Man kann die Banlieues bereits zu diesem Zeitpunkt als Ausdruck eines Imperialismus im Inneren bezeichnen, der sich – als Folge der Kolonisierung nach außen – durch die Verwaltung billiger Arbeitskraft auszeichnet. Ende des 20. Jahrhunderts kam es zu einem Abzug der Industrien aus den westlichen Zentren. Die Verlagerung von Produktionsstätten in periphere Länder sparte im Dienste der Profitmaximierung Kosten ein und die französischen Städte verloren zusehends ihre Funktion zur Rekrutierung von Arbeitskräften, da diese andernorts günstiger zu reproduzieren waren.
Das vormals an die Produktion angeschlossene Banlieue wurde damit abgeschieden und isoliert. Ab den 80er Jahren begann die Arbeitslosenquote deutlich anzusteigen. In der Verwaltung dieser Räume ging es folglich weniger um Ausbeutung als um die Regulierung überschüssiger Arbeitskraft, die nicht mehr gebraucht wurde. Die Ausschlüsse des Banlieues wurden auf Dauer gestellt und die soziale Isolation wie formelle Arbeitslosigkeit trugen sich von Generation zu Generation weiter. Ein Wohlfahrtsregime hielt die Bewohnenden gerade so am Leben. Damit wurden die Banlieues eher zu einer Institution, in der Menschen »gelagert« werden denn zu jenem Ort prekarisierter Arbeiter*innen, als der sie oft dargestellt werden.
Kein neues Phänomen
Jene Gesellschaftsschicht, die in den imperialistischen Zentren als ungenutzte Arbeitskraft übrig bleibt, wird in der marxistischen Theorie als »Überschussbevölkerung« bezeichnet. Sie steht demnach nicht mehr dem Fabrikbesitzenden gegenüber, der ihre Arbeitskraft kauft, um daraus Mehrwert zu schöpfen, sondern dem staatlichen Gewaltmonopol. Der Polizei kommt in diesem Szenario die Aufgabe des buchstäblichen »an Platz und Stelle«-Haltens dieser Bevölkerungsgruppe zu: innerhalb der räumlichen Ordnung, aber auch in ihrer untergeordneten sozialen Position. Diese Form der Regulierung einer »Überschussbevölkerung« durch die Polizei erklärt, warum letztere in den Banlieues die meisten und umfassendsten Befugnisse hat sowie dort in höherer Präsenz auftritt als in anderen Teilen von Paris.
Der gewaltsame Aufstand gegen diese Ordnung ist jedoch kein Phänomen, das erst mit der Transformation der Banlieues auftrat. Bereits der sogenannte Brotaufstand von 1775 in Frankreich, ausgelöst durch die damals steigenden Mehl- und Getreidepreise, war von Aufruhr auf Marktplätzen und Plünderungen bestimmt – und gilt bis heute als Wegbereiter der Französischen Revolution. Alledings wurde der Markt damals lediglich durch Stadtknechte überwacht, die Polizei im modernen Sinne war so noch nicht existent. Der Autor und Literaturprofessor Joshua Cover beschrieb es so, dass der Staat in der Ferne gelegen habe, während die Ökonomie sehr nah gewesen sei. Unter den heutigen Bedingungen der polizeilichen Kontrolle scheint es, so Clover, genau andersherum: Die Ökonomie wird als fern erlebt, während der Staat mit Regulation und Polizeipräsenz sehr nah ist.
Riot als Analysekategorie
Die Banlieues sind nicht nur Ort der Regulation, sondern darüber hinaus ein Laboratorium, von dem aus sich erprobte polizeiliche Taktiken zur Kontrolle auf die Gesamtgesellschaft ausweiten. Der Einsatz sogenannter Flash-Balls (halbsteife Gummikugeln) begann beispielsweise 1995 in den Vorstädten und wurde dann gegen Demonstrationen eingesetzt, angefangen bei den Protesten der Gelbwesten im Jahr 2018. Auch jene Polizeieinheit zur Verbrechensbekämpfung, die Brigade Anti-Criminalité (BAC), die heute regelmäßig gegen Demonstrant*innen vorgeht, haben in den Banlieues ihren Anfang genommen.
Vor diesem historischen Hintergrund deutet vieles darauf hin, dass der Riot nicht nur einen willkürlichen Gewaltausbruch oder unpolitischen Aufruhr darstellt. Vielmehr verdichten sich in ihm die sozialen Verhältnisse jener Überschussbevölkerung, der kapitalistischen Herrschaft und ihrer Geographien. Wie es Joshua Clover formulierte, ist der Aufstand etwas, das »als eine Sonnenuhr betrachtet werden kann, die anzeigt, wo wir uns in der Geschichte der kapitalistischen Akkumulation befinden«. Von ihm aus ist eine Analyse der Materialisierung und historischen Transformation kapitalistischer Vergesellschaftung möglich. Ob wie zuletzt in Belgien, in Londoner Vororten, den Schwarzen Ghettos der USA, Berliner Stadtteilen oder den Pariser Banlieues: Die Tendenz zur repressiven Verwaltung sogenannter Überschussbevölkerung verstetigt sich in Zeiten von Austerität und Krise.
Simin Jawabreh (Instagram: @siminjawa) ist antirassistisch organisiert und in der politischen Bildungsarbeit tätig. Sie arbeitet an der Humboldt-Universität zu Berlin im Lehrbereich Theorie der Politik und beschäftigt sich mit abolitionistischen Theorien, Dekolonialismus und Marxismus.
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