Draußen sind die Taliban

Zwei Jahre nach ihrer Rückkehr schränken die radikalen Machthaber das öffentliche Leben immer mehr ein

  • Emran Feroz, Kabul
  • Lesedauer: 8 Min.
Mohammad Zahed ist mit seiner Familie untergetaucht, weil er früher für die Bundeswehr und die US-Armee gearbeitet hat.
Mohammad Zahed ist mit seiner Familie untergetaucht, weil er früher für die Bundeswehr und die US-Armee gearbeitet hat.

»Es gibt hier fast niemanden, der nicht rauswill«, sagt Mohammad Zahed, während er auf dem Boden seines Gästezimmers sitzt und Obst für seine fünfjährige Tochter schneidet. Die Frage, wie man dem Alltag in Afghanistan entfliehen könne, sei meistens ein Tischthema, erzählt er. Gleichzeitig boome der Markt für Reisedokumente. Wer ein Visum für Pakistan, Iran oder Kasachstan möchte, muss mittlerweile eine dreistellige Summe US-Dollar hinblättern. Ähnliches gilt für einen afghanischen Reisepass.

Früher war Zahed für die deutsche Bundeswehr und die US-Truppen als Kommunikationstechniker tätig. Er legte Leitungen, verdiente gutes Geld und gewann neue Freunde. Ohne seine Expertise hätten jene westlichen Soldaten, die 20 Jahre lang in Afghanistan stationiert waren, nicht miteinander kommunizieren können. Dann, im August 2021, kamen die Taliban. Die internationalen Truppen zogen ab, und alles brach zusammen.

»Sie haben sich ihrer Verantwortung entzogen«, blickt Zahed heute auf die westlichen Truppen zurück. Er meint damit nicht nur die politische Verantwortung des Westens im Allgemeinen, sondern auch jene, die seine Person betrifft. Im Gegensatz zu vielen anderen sogenannten Ortskräften wurde Zahed bis heute von niemandem evakuiert. Er lebt weiterhin mit seiner Familie in Kabul – oder besser gesagt: Er ist untergetaucht. Als einstiger Verbündeter der westlichen Truppen gilt er in den Augen der neuen Machthaber als Feind und Verräter. Dass er Teil eines kriegsbesessenen Militärapparates war, dem es nie um das Wohl der Afghaninnen und Afghanen ging, hat Zahed erst spät verstanden.

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Seit nun zwei Jahren regieren die militant-islamistischen Taliban wieder Afghanistan. Die alte Armee ist zerfallen, die republikanische Regierung ins Exil geflüchtet. Im Oktober 2001, nach den Al-Qaida-Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center und das Pentagon unweit von Washington, war die Nato unter Führung der USA in das Land einmarschiert. Das »Islamische Emirat Afghanistan« fiel; der »Krieg gegen den Terror« begann – und er traf hauptsächlich unschuldige Afghanen. Inzwischen sind viele der Taliban-Führer, die nach vermeintlich präzisen Anti-Terror-Operationen vom US-Militär oder der CIA für tot erklärt wurden, wieder aufgetaucht und zelebrieren ihre erfolgreiche Rückkehr.

Das Taliban-Emirat ist wieder Realität geworden. Die weißen Flaggen mit der Schahada, dem islamischen Glaubensbekenntnis, sind in verschiedenen Formaten omnipräsent. Mehrere Millionen US-Dollar sollen die Taliban dafür ausgegeben haben, während die Bevölkerung hungert und von einer Krise in die nächste gerät.

Vor zwei Wochen feierten die Taliban ihren »Sieg« gegen die westlichen Truppen und deren afghanische Verbündete, wie schon im vergangenen Jahr. Mit Auto- und Motorradkolonnen fuhren sie durch die Stadt und schwenkten die weißen Flaggen. Die Show war nur für sie selbst. Viele andere Afghanen wurden praktisch nach Hause verbannt. Läden mussten schließen, die Straßen der Hauptstadt waren wie leer gefegt. Denn die neuen Machthaber fürchten sich vor Bombenanschlägen, obwohl sie einst selbst für solche Terrortaten verantwortlich waren. Die größte Gefahr im Land geht derzeit von der afghanischen IS-Zelle aus.

Viele Afghanen sind der Meinung, dass die Taliban nicht militärisch gesiegt hätten. Stattdessen sei das Land Opfer von politischen Deals geworden, allen voran jenen im Golfemirat Katar zwischen den Taliban und der Trump-Administration. Außerdem gab es viele korrupte Politiker und Militärchefs, sodass es den neuen Machthabern rasch und scheinbar mühelos gelang, ihr Narrativ durchzusetzen. Schon vor einem Jahr marschierten im August maskierte Extremisten durch die Hauptstadt. Der staatliche Radiosender RTA, der sich einst darum bemühte, divers und modern zu erscheinen, stellte Sprengstoffwesten, Kalaschnikows und Handgranaten zur Schau, während die Angehörigen von Selbstmordattentätern vom Regime hofiert wurden.

Auch Kinder werden von den Taliban instrumentalisiert. »Ich möchte wie mein Vater werden. Irgendwann habe ich meine eigene Einheit«, sagt der gerade mal achtjährige Bilal. Wenige Meter von ihm, nahe dem Dar-ul-Aman-Palast im Westen Kabuls, patrouilliert Bilals Vater mit einigen anderen Taliban-Kämpfern. Der schwül-heiße Sommer in Kabul macht auch ihnen zu schaffen, sie winken vorbeifahrende Autos desinteressiert durch.

»Was sollen diese Kinder sonst schon lernen?«, fragt Hakim*, der sich mittlerweile an die Taliban-Kämpfer in der afghanischen Hauptstadt gewöhnt hat. »Diese Gewalt ist allgegenwärtig – und es wird sie auch künftig geben.« Früher wagte sich der Taxifahrer kaum aus Kabul heraus und mied jene Gebiete, die von den Taliban kontrolliert wurden. Heute kann sich niemand den neuen Machthabern entziehen. Die kontrollieren praktisch das gesamte Land und tummeln sich mittlerweile auch in den Cafés und Restaurants, die sie einst in die Luft jagten.

In den Provinzen Baghlan und Panjsher, wo sich einige Widerstandskämpfer bis heute verschanzt haben sollen, tut sich nicht mehr viel. In beiden Regionen sollen sich seit der Machtübernahme der Taliban mehrere Kriegsverbrechen ereignet haben. Eine unabhängige Berichterstattung ist nicht möglich. Journalisten, die – wenn überhaupt – hineingelassen werden, bekommen einen Talib an ihre Seite gestellt.

Vor allem im Panjsher-Tal nördlich von Kabul, das in den 90er Jahren unter dem Mudschaheddin-Kommandanten Ahmad Shah Massoud als Anti-Taliban-Bastion bekannt war, dominiert heute die Unterdrückung der neuen Machthaber, unter anderem wohl auch aus Rache. Während der Besetzung Afghanistans durch die USA wurden mehrere Kernministerien, darunter etwa das Verteidigungs- sowie das Innenministerium, von Massouds einstigen Kommandanten bestimmt. Massoud selbst wurde zwei Tage vor den Anschlägen des 11. September 2001 von Al-Qaida-Extremisten getötet.

Wer heute nach Panjsher will, muss sich den Taliban stellen und wird auf Schritt und Tritt überwacht. Das gilt auch für gewöhnliche Afghanen aus anderen Provinzen. »Wir wurden ausgefragt und mussten letzten Endes wieder gehen«, erinnert sich Karim Mohammadi. Gemeinsam mit seinen Freunden hatte der 25-jährige Student einen Tagestrip ins Tal geplant, doch die Taliban-Kämpfer vor Ort gewährten ihnen keinen Einlass. Die Menschen aus Panjsher seien praktisch in einem Freiluftgefängnis, meint Mohammadi. Andere Menschen berichten, es sei ruhig dort. Das gesamte Tal sei von Taliban-Soldaten sowie dem berühmt-berüchtigten Geheimdienst der Extremisten besetzt.

Viele Menschen gehen noch weiter und sagen, mittlerweile sei ganz Afghanistan ein Gefängnis geworden. Seit der Rückkehr der Taliban ist das Land in die Isolation zurückgefallen. Humanitäre Katastrophen und wirtschaftliche Stagnation gibt es überall. Besonders schlimm ist die Situation für Mädchen und Frauen, die vom Schul- und Universitätsverbot betroffen sind. Hinzu kommen stetig neue Arbeitsverbote.

Für Aufsehen und Empörung sorgte die jüngst erlassene Massenschließung von Schönheitssalons. »Ich hatte sechs Lehrlinge«, sagt Sharifa, Anfang 50, aus dem Westen Kabuls. »Meinen Salon leitete ich 15 Jahre lang. Dass ich nun schließen muss, ist nicht nur mein Ruin.« Während einige Arbeiter ihren Salon ausräumen, ist sie den Tränen nahe. Sharifa erzählt, dass solche Salons nicht nur die Existenz von Frauen sicherten und deren Unabhängigkeit förderten, sondern auch Orte der Zusammenkunft waren. Frauen konnten dort unter sich sein. Aber die Taliban können damit nichts anfangen. Ihre Sittenwächter, die stets paranoid durch die Stadt geistern, um möglichen »moralischen Vergehen« auf die Schliche zu kommen, haben dafür kein Verständnis.

»Diese Idioten sehen überall Prostitution und Moralverfall«, sagt einer der Arbeiter wütend, während er Sharifa beim Ausräumen hilft. Wer seinen Salon nicht schließt, hat mit Strafen und Enteignungen zu rechnen. Wie sehr die Taliban mit diesem Schritt die afghanischen Frauen treffen, wird an der hohen Zahl der Schönheitssalons deutlich: Mehrere Zehntausend gab es bis vor Kurzem im gesamten Land. Ähnlich wie Oberschulen und Universitätskurse für Mädchen werden sie nun in den Untergrund gedrängt.

Auch Sharifa will weiterhin arbeiten – von zu Hause aus. Viele Salon-Inhaberinnen werden das machen. »Meine Friseurin hat ihr Haus bereits umfunktioniert«, berichtet Samira Rahmani, eine Lehrerin aus Kabul und verspricht: »Ich werde sie weiterhin aufsuchen.« Dann erzählt sie von einer Bekannten, die vorhat, nach Pakistan zu flüchten. »Sie möchte ihren Salon dort wiedereröffnen.«

Für Mohammad Zahed hingegen ist klar, dass das Afghanistan der Taliban für seine Familie keine Zukunft bieten kann. »Das wird nie der Fall sein. Diese Menschen werden sich nie ändern, und ich muss an meine Töchter denken«, sagt er. Nachdem die Deutschen ihn zurückgelassen haben und auf seine E-Mails nicht mehr reagieren, will er sein Glück in den USA versuchen. Für ein SIV – Special Immigrant Visa, ein spezielles Einwanderungsvisa – hat er sich, ähnlich wie Hunderttausende Afghanen, bereits beworben. Ein alter Freund beim US-Militär will ihm helfen. »Die Taliban können das Land gerne haben – mit all jenen, die so denken wie sie«, sagt Zahed.

Doch nicht allen gelingt die Ausreise, selbst wenn sie ein Visum bekommen haben. Am vergangenen Mittwoch sorgten die Repressalien der Taliban abermals für Aufsehen. Es wird berichtet, dass sie am Kabuler Flughafen die Ausreise von 70 Studentinnen, die Ausbildungsvisa und Stipendien von den Vereinigten Arabischen Emiraten erhalten hatten, verhindert haben.

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