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Bedrohung aus der Tiefe
Wenn Tokio an die Erdbebenkatastrophe von 1923 erinnert, schwingt die Angst vor einem neuen Beben mit
Um die Mittagszeit war die große Hauptstadt nicht mehr wiederzuerkennen. Hier lagen Trümmer, dort brannten Häuser nieder. Hell war es – nicht, weil die Sonne so stark schien, sondern weil es überall loderte. »Die Haushalte brauchten Strom zum Kochen, als das Beben begann«, erklärt dazu ein von dramatischen Bildern begleiteter TV-Beitrag. Er fügt hinzu: »Während der folgenden drei Tage brannte die Stadt ab. 96 000 Gebäude wurden zerstört, 99 000 Menschen starben.« Später stiegen die Opferzahlen noch etwas an. Doch das Unglück war noch lange nicht ausgestanden.
Die Oberflächenmagnitude von 7,9 erschütterte eine Metropolregion von mehr als drei Millionen Menschen – Tokio war schon damals einer der größten Ballungsräume der Welt. Weil ein Großteil der Gebäude aus Holz gebaut war, der Regen an diesem Tag ausblieb, dafür aber starker Wind wehte, verwandelten sich ganze Stadtteile durch Brände in Schutt und Asche. Der ökonomische Schaden wird auf kaum vorstellbare 37 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geschätzt. Damit gehört das Erdbeben vom 1. September 1923 zu den größten Katastrophen der japanischen Geschichte.
Wer sich 100 Jahre später in Japans Hauptstadt bewegt, könnte vermuten, dies alles sei nicht mehr als Vergangenheit. Immerhin gehört Tokio heute zu den modernsten Metropolen überhaupt. Gerade in Sachen Erdbebensicherheit ist die Stadt führend. Neuere Gebäude sind so konstruiert, dass sie den meisten Vibrationen unter der Erde standhalten können. Ein wenig Rütteln unter den Füßen versetzt heute keine Tokioterin mehr in Hektik.
Aber Experten warnen seit Jahren: Ein neues großes Beben könnte nur noch wenige Jahre entfernt sein. Im Viertel Bunkyo am Nordostrand des vor 100 Jahren besonders beschädigten historischen Stadtzentrums macht sich Naoshi Hirata Sorgen. »Die Menschen sind nicht hinreichend auf ein großes Erdbeben eingestellt«, sagt er in einem kleinen Hörsaal und klickt durch eine Powerpoint-Präsentation. Hirata ist emeritierter Seismologieprofessor am Erdbeben-Forschungsinstitut der Universität Tokio. Seine Prognose hat Gewicht.
»Unsere Berechnungen veröffentlichen wir regelmäßig«, sagt Hirata. Aber verstanden, so fürchtet der ältere Herr, werden sie kaum. Womöglich sind sie zu bedrohlich, um sie mental zu verarbeiten: Die Wahrscheinlichkeit, dass der Großraum Tokio, in dem rund 37 Millionen Menschen leben, in den kommenden 30 Jahren von einem Erdbeben der Stärke 6,7 bis 7,3 erschüttert wird, liegt demnach bei 70 Prozent. Obwohl so ein Beben noch wesentlich schwächer wäre als jenes aus dem Jahr 1923, würden voraussichtlich mehr als 6000 Menschen sterben.
»Bei diesen Berechnungen stützen wir uns vor allem auf Erdbeben aus der Vergangenheit«, erklärt der Seismologe. »Zwar gibt es erst seit Ende des 19. Jahrhunderts Seismografen, die Schwingungen in der Erde messen. Um Beben von vor dieser Zeit berücksichtigen zu können, müssen wir auf historische Quellen zurückgreifen.« Zu dieser Datenbasis kommt die Tektonik hinzu, also die Lehre von der Bewegung verschiedener Erdplatten. Da unterhalb von Tokio die Pazifische und die Philippinische Ozeanplatte unter die kontinentale Eurasische Platte abtauchen, ist die Erdbebengefahr hier besonders hoch.
Als Tokio vor 100 Jahren zerstört wurde, hätte man diesen Ort verlassen, die Hauptstadt umsiedeln können. Aber nach anfänglichen Überlegungen wollte die Regierung ihrer Metropole treu bleiben. Die Stadt wurde sofort wieder aufgebaut, erstmals mit Regulierungen in Bezug auf Erdbebensicherheit. Als Tokio wie fast alle japanischen Großstädte im Zweiten Weltkrieg durch Luftangriffe zerstört wurde, begann der Wiederaufbau aufs Neue. Doch hierin bestanden auch Chancen, sagt Naoshi Hirata: »Generell gilt: Je jünger die Gebäude, desto sicherer sind sie vor Beben.«
Tatsächlich fällt im globalen Vergleich auf, wie relativ gering die Schäden durch Erdbeben heute sind, wenn sie sich unter japanischem Boden ereignen. Ein Beben wie jenes, das sich im Frühjahr 2023 unter der Türkei und Syrien zutrug und um die 60 000 Todesopfer forderte, wäre in Japan wohl deutlich weniger tödlich ausgegangen. Der Weltrisikobericht der Ruhr-Universität Bochum listet Japan als eines jener Länder, die den weltweit höchsten Risiken für Erdbeben gegenüberstehen, zugleich aber am wenigsten vulnerabel sind, wenn sie eintreten.
Neben Gebäudestandards liegt dies an regelmäßigen Schulungen. Jährlich führen Arbeitgeber, Behörden und Schulen Übungen zum Evakuieren und Ducken unter Tischen durch. In praktisch jedem Büro in Japan werden pro Arbeitskraft ein Schutzhelm und ein Rucksack mit Proviant aufbewahrt. Medien machen regelmäßig auf die Gefahren aufmerksam. Im führenden TV-Sender ANN berichtete dieser Tage eine 107-jährige Zeitzeugin vom Erdbeben 1923: »Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen. Alles Mögliche flog durch die Luft, ich selbst auch.« Irgendwie überlebte sie.
Auf ein nächstes Beben vorbereitet zu sein, ist nicht nur wichtig, um Menschenleben zu retten. Je größer der Schaden einer Katastrophe, desto verheerender können die Folgen auch für den sozialen Zusammenhalt sein. Auch dies lehrt die Katastrophe von vor 100 Jahren. Torsten Weber, Historiker am Deutschen Institut für Japanstudien, blättert in seinem Büro durch Dokumente über die Zeit nach dem großen Beben. Es sind jene Jahre, als Japan in den Faschismus abdriftete.
»1923 rumorte es in der Gesellschaft«, so Weber. Mehrere politische Strömungen konkurrierten um Einfluss, darunter Kommunisten, völkische Nationalisten und Kaisertreue. »In Korea, das seit 1905 japanisches Protektorat war, gab es außerdem Sabotageakte, Aufstände und Forderungen nach Unabhängigkeit von Japan.« So war der Ruf der Koreanerinnen und Koreaner ohnehin schon nicht gut, sie galten als potenzielle Terroristen. Wobei für das schlechte Ansehen auch Demagogie verantwortlich war.
»In der Folge des Erdbebens wurde unter anderem von Medien und dem japanischen Innenministerium gewarnt, Koreaner könnten Brunnen vergiftet haben, Plünderei und Brandstiftung planen.« Historische Forschung zeigt, dass das bloße Behauptungen waren. Aber im September 1923 glaubten dem viele: »Nach dem Erdbeben begann eine Hetzjagd auf in Japan lebende Koreanerinnen und Koreaner. Zwischen 1000 und 2000 Menschen wurden ermordet, außerdem um die 100 Personen aus China.«
Für den weiteren Verlauf der Geschichte spielte auch das verheerende Beben eine Rolle: Als oppositionelle Gruppen daheim unterdrückt wurden, rüstete Japan weiter auf, regierte nicht nur in der koreanischen Kolonie mit harter Hand, sondern unterwaf weitere Länder im Pazifik. Der Faschismus endete erst mit dem Abwurf zweier Atombomben durch die USA über Hiroshima und Nagasaki im August 1945. Hunderttausende Menschen starben, viel mehr noch als 1923 durch das Beben. Japan begann einen friedlichen Wiederaufbau.
Wobei Torsten Weber zu Bedenken gibt: »Vorurteile gegenüber Menschen aus Korea gibt es in Japan bis heute, insbesondere von rechtskonservativen Kräften, die die Regierungen in Japan und Tokio bilden.« So wird die seit 2016 regierende Gouverneurin Tokios, Yuriko Koike, jedes Jahr erneut dafür kritisiert, dass sie anders als ihre Amtsvorgänger zum Jahrestag der Pogrome kein Schreiben an die koreanische Gemeinde schickt, um ihr Bedauern über das Massaker auszudrücken. Dennoch ist sich Weber sicher: »Eine Hetzjagd wie damals ist heute nicht mehr vorstellbar.«
Ebenso wenig vorstellbar scheint, dass der Schaden eines Erdbebens auf ein Minimum reduziert wird, wie von den Seismologen um Naoshi Hirata immer wieder angemahnt. Gerade im historischen Kern Tokios stoßen Fußgänger immer wieder auf Gebäude, die weitgehend aus Holz bestehen. In rund 300 000 alten Holzhäusern leben bis heute 1,8 Millionen Menschen, insbesondere Hochbetagte. Aber der alte Baustil ist heute auch bei jungen Menschen beliebt. In einem dieser alten Gebäude ist das Café Kayaba im Viertel Yanaka, nur einen guten Kilometer Earthquake Research Institute entfernt.
»Dieses Haus wurde im Jahr 1916 errichtet«, erklärt eine hip gestylte, junge Frau, während sie an einer modernen Kaffeemaschine Getränke zubereitet. Sie blickt mit Stolz durch das kleine Geschäft. »Wir haben uns bemüht, das alte Design beizubehalten.« In den sozialen Medien ist Kayaba ein Hit. Naoshi Hirata muss milde lächeln, wenn er von solchen Geschäftsmodellen hört. »Nachdem wir die Regierung beraten haben, bietet der Staat Subventionen an, damit diejenigen, die im Besitz sehr alter Gebäude sind, diese rundum renovieren lassen. Aber das wird kaum wahrgenommen.«
Vielen Menschen in Tokio geht das Herz auf, wenn sie alte Gebäude aus Holz sehen. Man fühlt sich in eine andere Epoche versetzt, wenn man sich ihnen nur nähert. Wobei kaum jemand daran denkt, dass es solche Gebäude sind, die im Ernstfall wohl Leben kosten würden.
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