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Der schamlose Herr Aiwanger
Christoph Ruf über die Flugblatt-Affäre in Bayern
Menschen, die Hubert Aiwanger persönlich kennengelernt haben, beschreiben ihn zuweilen als ambivalente Persönlichkeit. Ein Polterer vom rechten Rand, aber offenbar in vielen Bereichen seines Ressorts faktensicher. Und: nicht doof. Man kann also davon ausgehen, dass der Mann selbst am besten weiß, wie glaubwürdig die Geschichte ist, derzufolge sein Bruder das neonazistische Flugblatt verfasst hat. Nicht einmal Markus Söder soll die Geschichte auch nur ansatzweise glauben. Doch Aiwanger ist noch im Amt. Und wenn man seine Mimik richtig deutet, findet er es aufrichtig abwegig, dass es Leute gibt, die seinen Rücktritt unausweichlich finden.
Hier also noch mal: Zurücktreten muss Aiwanger nicht, weil er vor über 30 Jahren NS-Fantasien zu Papier gebracht hat, bei denen man kein Politologe sein muss, um die tief verinnerlichte Ideologie dahinter herauszulesen. Gehen muss er, weil er nach der Enthüllung des Offensichtlichen nicht das Einzige getan hat, das ihm den Arsch hätte retten können: ehrliche Reue zu zeigen und halbwegs glaubwürdig zu erläutern, wie man als Jugendlicher herumhitlern, im Laufe der Jahre aber zum »Menschenfreund« (Eigenwahrnehmung) werden konnte.
Er sei »seit Jahrzehnten kein Antisemit mehr«, hat er immerhin gesagt. Interessant, denn das heißt ja, dass er mal einer war. Offensichtlich hatte der intelligente Herr Aiwanger da kurz vergessen, dass es ja gar nicht er war, der den antisemitischen Müll zu Papier gebracht haben soll. Passt jedenfalls nicht ganz zur offiziellen Erzählung: Herbert war’s. Und einen Tag später – darauf angesprochen, warum die Pamphlete bei ihm gefunden wurden: um sie wieder einzusammeln. Womöglich wird Aiwanger uns demnächst erzählen, er habe damals sogar eine Schülerdemo gegen die Umtriebe des Bruders organisiert.
Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet hier politische und sportliche Begebenheiten.
Nun ist es allerdings nicht so, dass Aiwanger tatenlos geblieben wäre in den vergangenen Jahren. Dass da mal was war mit einer Strafarbeit und einem Flugblatt, war ihm 2008 jedenfalls offenbar sehr bewusst. Damals, als die Freien Wähler erstmals in den bayrischen Landtag einzogen, hat er sich bei einem Lehrer erkundigt, ob ihm Konsequenzen drohen. Schon vor 15 Jahren war das Einzige, was ihn an den Auschwitz- und Dachau-Fantasien im Rückblick interessierte, die Auswirkung auf die eigene Karriere. Die gleiche Schamlosigkeit, die ihn 2008 antrieb, zeigt er auch jetzt. Auf die Idee, sich jetzt selbst zum Opfer – selbstredend einer Medienkampagne – zu stilisieren, muss man erst mal kommen. Aber vielleicht wird man automatisch so, wenn man lange genug Teil des Machtapparates war.
Es drängt sich der Eindruck auf, dass die erste und einzige Sorge vieler Spitzenpolitiker ausschließlich dem eigenen Machterhalt gilt. In Bayern, anhand der Causa Aiwanger, lässt sich das lückenlos durchdeklinieren: Die »Freien Wähler«, von denen einige aufrichtig entsetzt zu sein scheinen, trennen sich dennoch nicht von ihm, weil sie dann ihr Zugpferd los wären und bei der anstehenden Landtagswahl schlechter abzuschneiden fürchten. Söder, der angeblich nicht erst seit gestern schwer genervt von Aiwanger sein soll, hält derweil an ihm fest, weil ihm sonst der bequemste Koalitionspartner abhanden zu kommen droht. Die Grünen gingen zwar auch, aber die hat er – ebenfalls aus wahltaktischen Gründen – in den letzten Wochen ja so vehement durchbeleidigt, dass eine gemeinsame Koalition dann doch ein wenig widersprüchlich wirken würde.
Das – und nichts anderes – sind die Gründe, warum Aiwanger noch im Amt ist, da kann der »Zentralrat der Juden« noch so irritiert sein. In der Angelegenheit stellen sich viele Fragen. Eine davon ist, ob der Kampf gegen rechts immer nur dann geführt wird, wenn er nichts kostet. Was, wenn das Hauptproblem von CSU und Co. nicht etwa wäre, dass es die AfD gibt? Sondern dass sie ihnen die Stimmen wegnimmt, die sie selbst gerne hätten?
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