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Andrea Newerla: Der Kreis der Liebe
Willkommen im Zeitalter der Postromantik: Andrea Newerla will Nähe und Beziehungen neu denken
Dass die Gestaltung intimer Beziehungen an einem Wendepunkt angekommen und ihre Bedeutung heutzutage eine andere als noch zu Hochzeiten der Romantikepoche ist, wissen wir nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie. Während familiäre und romantische Zweierbeziehungen durch politische Regularien – ganz besonders durch die Glaubenssätze von Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder – zu dieser Zeit zum höchsten Gut der Gesellschaft erklärt wurden, erlebten freundschaftliche Verbindungen, Patchwork- und Regenbogenfamilien, Single-Haushalte, polyamoröse Konstellationen sowie alle anderen Arten des gemeinschaftlichen Miteinanders eine schamlose Abwertung. Söders Auffassung, Weihnachten sei das Fest der Familie und Silvester »nur« eine Feier für Freund*innen und daher wohl weniger bedeutsam, sprich, entbehrlicher, verdeutlichte, welche Zusammenkunft für die konservative Politik wichtiger, ergo schützenswerter ist.
Wie würde denn ein freundschaftszentriertes Leben in Hinblick auf eine rechtliche Absicherung aussehen? Wie können Wahlfamilien besser unterstützt werden und wieso muss alleine Wohnen so teuer sein? Wie leben eigentlich queere Menschen im Alter und was passiert mit unserer Gesellschaft, wenn sich ein Großteil vielleicht nicht mehr über die Institution der Ehe verbinden will? So viel ist gewiss: Zu alternativen Beziehungsformen gibt es bislang mehr Fragen als Antworten.
Eines lässt sich jedoch festhalten: Nicht nur die Ehe könnte ein paar Reformen vertragen und wird immer wieder von Feminist*innen, Politolog*innen und Autor*innen heftigst infrage gestellt, auch alternative Beziehungsmodelle sowie individuelle Lebensentwürfe spielen eine verstärkt große Rolle im Diskurs. So schien es in pandemischen Krisenzeiten nahezu einen Hype rund um das Thema gegeben zu haben. Denken wir nur an Daniel Schreibers Bestseller »Allein« (2021), in dem der Autor aufgrund von Selbsterfahrungen Überlegungen zu einem bewusst gewählten Single-Leben skizziert, oder die bemerkenswerte Schrift »Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist« (2021) von Şeyda Kurt, die sich den Normen der Liebe aus einer intersektionalen Perspektive nähert und den Wandel beziehungsweise das Neudenken zwischenmenschlicher Verbindungen befürwortet.
So unterschiedlich die Ansätze auch sind, die Fragen bleiben die Gleichen und sie werden größer: Wie wollen wir zusammenleben und mit wem? Wie politisch ist die Liebe? Welchen Stellenwert haben intime Verbindungen heute und was ist eigentlich der Unterschied zwischen Freund*innenschaft und romantischen Beziehungen?
Die Soziologin und Intimitätsforscherin Andrea Newerla spürt in ihrem aktuellen Buch »Das Ende des Romantikdiktats: Warum wir Nähe, Beziehungen und Liebe neu denken sollten« genau diesen Fragen nach. Hierfür wählt Newerla den Weg der biografischen Forschung und bringt sowohl ihre eigene Geschichte als auch die Erfahrungen von insgesamt 42 Interviewpartner*innen in ihre Abhandlung ein und beschäftigte sich für ihre Arbeit intensiv mit den Funktionsweisen und Regeln von Dating-Plattformen, insbesondere mit Dating-Apps. »Wir brauchen eine neue Ethik des Datens«, schreibt die Soziologin. Denn bevor es überhaupt zu einem ersten erfolgreichen Date komme, müsse sich der Mensch heutzutage erst einmal über die eigenen Liebesbedürfnisse in Zusammenhang mit der stark im Fokus stehenden Identität im Klaren werden. Wer wir sind, wen oder wie wir lieben wollen – das sind schließlich große, wenn nicht gar philosophische Fragen.
Newerla vertritt die Ansicht, dass das Online-Dating nicht nur oberflächlich und flüchtig ist, sondern Potenzial zur Selbstermächtigung hat. »Menschen haben hier die Möglichkeit, sich auszuprobieren, ihre eigenen Grenzen und Bedürfnisse klarer zu formulieren und sich darüber bewusst zu werden, wen oder was sie suchen.« Auf der unendlichen Spielwiese der digitalen Erstkontakte bleiben schmerzhafte Erfahrungen wie »Ghosting« natürlich nicht aus, dennoch: Versuchen kann nicht schaden.
Das Buch ist anders als übliche soziologische Abhandlungen wie beispielsweise die von Eva Illouz, die sich meist recht trocken auf Theorien und statistische Erhebungen beziehen. Newerla schreibt angenehm unakademisch und konsultiert dennoch kluge Denker*innen wie bell hooks, deren »All about love« (2018) für Newerla zur Schlüssellektüre wurde. Gleich zu Beginn ihres Buchs gibt sie Einblicke in ihre eigene Liebes- und Trennungsgeschichte mit einem gewissen Fritz, mit dem sie trotz Beziehungsende noch immer eng verbunden ist. Um diese und auch andere persönliche Beziehungen zu verstehen, begann sie, über die Bedeutung und Möglichkeiten intimer Beziehungen nachzudenken und diese auch infrage zu stellen.
Diese unkonventionelle Herangehensweise macht Spaß und ist leicht verständlich geschrieben, die Autorin analysiert nicht nur, sie erzählt. Newerla gibt keine Handlungsanweisungen oder Tipps für ein besseres Beziehungsleben. Keinesfalls haben wir es hier mit einem Selbsthilfebuch zu tun. Sie will zum Nachdenken über Beziehungen und mögliche Transformationen anregen, weg von der romantischen Zweierbeziehung hin zu neuen Formen des Miteinanders. Was wäre beispielsweise, wenn zwei (oder mehr) Menschen nicht nur heiraten könnten, sondern auch die Möglichkeit hätten, in einer sogenannten Verantwortungsgemeinschaft zu leben? Freund*innenschaften oder Wohngemeinschaften hätten dadurch die Chance, sich rechtlich abzusichern, Sorgearbeit und eben Verantwortung füreinander zu übernehmen. Einen Gesetzentwurf dafür gibt es sogar schon: Ende 2023 soll von der Ampel-Regierung ein neues Rechtsinstitut in Deutschland etabliert werden. Vorbild dafür ist der »Pacte civil de solidarité«, ein ziviler Solidaritätspakt, der bereits 1999 in Frankreich eingeführt und zu Beginn vor allem von queeren Menschen in Anspruch genommen wurde.
Trotz zahlreicher offener Fragen nähert sich die Autorin schließlich der Bedeutung von Begriffen wie »Romantik« und »Intimität« an, beschreibt ihren Wandel und fragt stets nach Verbindlichkeit. Denn für die Abschaffung des »Romantikdiktats« gilt, dass in einer Welt der Hektik und der Unverbindlichkeit Beziehungen wichtiger werden, weil sie lebensnotwendig sind.
»Wenn wir Verbindlichkeit nicht mit der Form der Beziehung verknüpfen, wie etwa einer romantischen, sondern mit dem Prozess, den wir mit einem anderen Menschen eingehen, gelangen wir zu einer neuen Perspektive«, schreibt Newerla zuversichtlich in ihrem Ausblick. Gemeint ist »eine transformative Verbindlichkeit, die die Entwicklungen des Miteinander-in-Beziehung-Stehens in den Mittelpunkt stellt«. Beziehungen dürfen und sollen sich also wandeln. Newerla plädiert für freie Entscheidungen darüber, wie und mit wem wir unser Leben planen wollen, und für eine Erweiterung des Intimitätsbegriffs. Warum nicht mit unseren Freund*innen das Leben gestalten, warum nicht »die intimen Bande zu einem ›Kreis der Liebe‹ erweitern« – wie es schon bell hooks vorgeschlagen hat? Newerla begleitet die Leser*innen auf den noch steinigen Weg in die Postromantik. Doch keine Angst: Dort ist es schöner, vielfältiger und aufregender. Denn wo immer Menschen sich verbinden, wandelt sich auch unsere Gesellschaft und die kann schließlich nur besser werden.
Andrea Newerla: Das Ende des Romantikdiktats: Warum wir Nähe, Beziehungen und Liebe neu denken sollten. Kösel-Verlag, 208 S., 20 €. Buchvorstellung und Gespräch am Mittwoch, 6. September, um 19 Uhr im FMP1 (Salon), Franz-Mehring-Platz 1, Berlin. Moderation: Paula-Jeri Perschke. Anmeldung unter: nd-aktuell.de/romantikdiktat
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