Auf dem rechten Auge blind

Sonderausstellung informiert über politisch motivierte Urteile im Potsdam der Weimarer Republik

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 6 Min.

Am 12. November 1931 erschießt der Nazi Günther Güstrau im damals eigenständigen, aber heute zur Stadt Potsdam gehörenden Nowawes den 17-jährigen Jungkommunisten Herbert Ritter. Vor Gericht redet sich der Mörder damit heraus, er habe in Notwehr gehandelt. Landgerichtsrat Richard von Horn verurteilt ihn zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten Haft, die dann in der Berufungsinstanz zu nur noch 14 Tagen Haft wegen illegalen Waffenbesitzes abgemildert werden. Noch größer ist der Justizskandal im Vergleich mit dem Fall von Albert Klink. Dieser Kommunist wird am Abend des 12. November 1931 festgenommen, als sich in Nowawes spontan Menschen versammeln, um wegen der Ermordung von Herbert Ritter zu protestieren. Die Polizei findet bei Albert Klink, der im Januar 1940 im KZ Sachsenhausen ermordet wird, eine Pistole. Er bekommt deshalb dreieinhalb Monate wegen illegalen Waffenbesitzes aufgebrummt – man beachte: Er hatte niemanden erschossen, von der Schusswaffe überhaupt keinen Gebrauch gemacht.

Fälle wie diese haben schon in der Weimarer Republik zu der Einschätzung geführt, die Justiz sei auf dem rechten Auge blind. Schon Anfang der 1920er Jahre hatte der Mathematiker Emil Julius Gumbel (1891–1966) dies durch akribische Recherchen nachgewiesen. Er trug aus ganz Deutschland Urteile zu politischen Morden zusammen und zeigte: Bei 354 Morden behandelten die Richter die Täter aus dem rechten Lager überaus milde, während bei 22 Morden die Täter aus dem linken Lager unverhältnismäßig hart abgeurteilt worden sind.

Auch für Potsdam lasse sich eine solche Tendenz zweifelsfrei feststellen, sagt Johannes Leicht am Donnerstag. Er ist Kurator der neuen Sonderausstellung »Auf dem rechten Auge blind ...« in der hiesigen Gedenkstätte Lindenstraße 54. Es ist vor allem eine Stasi-Gedenkstätte. Hier in der Lindenstraße befand sich einst eine Untersuchungshaftanstalt des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit. Darauf liegt der Fokus. Darauf ist die Dauerausstellung ausgerichtet. In der Nazizeit aber ordnete am selben Ort ein Erbgesundheitsgericht Zwangssterilisierungen von Menschen an, die nach faschistischer Ideologie als erbkrank eingestuft wurden. Dergleichen sei in der Gedenkstätte unterbelichtet, so lautete vor vielen Jahren ein damals keineswegs unbegründeter Vorwurf.

Die neue Sonderausstellung rückt da etwas gerade. Sie ist außerordentlich interessant und gut gemacht. Zu den Exponaten gehören ein Polizeisäbel und ein Gummiknüppel. 1924 ersetzte in der Ausrüstung der Beamten der weniger gefährliche Knüppel den Säbel, der schlimme Verletzungen anrichten konnte. Nicht von ungefähr erläutert Kurator Leicht: »Der Gummiknüppel war in der Weimarer Republik ein republikanisches Symbol – so ändern sich die Zeiten.« Einem Altachtundsechziger könne man das heute schwer beibringen. Denn um 1968 herum wurden Demonstrationen der Studentenbewegung niedergeknüppelt und der Gummiknüppel war ein Symbol des verhassten, noch von Altnazis geprägten Obrigkeitsstaates. 1933 aber haben die Faschisten die Gummiknüppel der Polizisten schnell gegen Pistolen ausgetauscht, erklärt Leicht. Das spricht für sich.

Die Potsdamer Richter hatten vor 1918 im Namen des Kaisers ihre Urteile gesprochen und taten es nachher im Namen des Volkes. Ihre monarchistische oder auch deutschnationale Gesinnung behielten sie. Das wirkte sich auf die Rechtsprechung aus. Nur einer von ihnen, Richard von Horn – der den Mörder Güstrau in der ersten Instanz wenigstens für ein halbes Jahr hinter Gitter bringen wollte – bemühte sich 1933 nicht eilfertig um die Aufnahme in die NSDAP und trat ihr auch später nicht mehr bei. Er hatte von 1918 bis 1933 der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) von Alfred Hugenberg angehört, die eine Koalition mit Adolf Hitler einging und ihm so zur Macht verhalf. Nach dem Zweiten Weltkrieg schloss sich Richard von Horn der CDU an.

Ebenfalls Mitglied der DNVP und sogar Reichstagsabgeordneter war Landgerichtsdirektor Fritz Warmuth. Er stimmt mit seiner Fraktion, wenn auch vergeblich, gegen die Einführung der schwarz-rot-goldenen Flagge. Die Beibehaltung der Farben des Kaiserreichs Schwarz-Weiß-Rot wäre ihm lieber gewesen. 1933 setzt sich Warmuth dafür ein, dass am Gericht die Hakenkreuzfahne aufgezogen wird – noch bevor sie offiziell zur Staatsflagge erklärt wurde. Dafür, dass der Sozialdemokrat Gustav Fiedler in angeheitertem Zustand 1927 mehrfach höhnte »Schwarz-Rot-Mostrich«, bekommt dieser von Warmuth 300 Reichsmark Geldstrafe aufgebrummt. Dagegen muss bei Warmuth der Faschist Walter Thalmann nur 49 Reichsmark bezahlen – Thalmann war 1926 besoffen durch die Brandenburger Straße gezogen und hatte ein SA-Lied gegrölt: »Blut muss fließen, knüppeldick. Wir pfeifen auf die Freiheit der Judenrepublik. Hoch unser Führer Adolf Hitler!«

Im Zentrum der Ausstellung im Obergeschoss der Lindenstraße steht die Figur der Justizia wie üblich mit Augenbinde, um ohne Ansehen der Person zu urteilen, auch mit der Waage, um gerecht abzuwägen. Doch bei der hier verwendeten Waage befinden sich die Waagschalen passend zum Thema der Ausstellung nicht im Gleichgewicht, wie aufmerksame Betrachter feststellen können. Kurator Leicht gibt den Hinweis am Donnerstag.

An einer der Hörstationen gibt es eine Schilderung des fortschrittlichen Schriftstellers Heinrich Mann (1871-1950) über die Zeit, die er wegen eines politischen Delikts an der Lindenstraße in Untersuchungshaft saß.

Gezeigt wird auch ein Exemplar der »Weltbühne«. Carl von Ossietzky redigierte die Zeitschrift nicht selten im Potsdamer Café »Rabien«. Weil der Journalist Walter Kreiser in der »Weltbühne« über den heimlichen Aufbau einer Luftwaffe informiert hatte, der laut Versailler Vertrag nicht zulässig war, wurde Kreiser und seinem Herausgeber von Ossietzky in Leipzig der Prozess wegen Geheimnisverrats gemacht. Sie wurden 1931 zu je anderthalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt – ein berühmter Fall politischer Justiz in der Weimarer Republik.

Johannes Leicht wollte die Medaille des Friedensnobelpreises, den Carl von Ossietzky 1936 erhielt, als Leihgabe ausstellen. Die Versicherung hätte den Wert aber auf eine halbe Million Euro geschätzt und das Risiko eines Diebstahls konnte nicht einmal in einem ehemaligen Gefängnis ausgeschlossen werden, bedauert Leicht. Jetzt ist nur ein Foto von der Medaille zu sehen.

Das alles darzustellen sei für die Gedenkstätte Lindenstraße »ein ganz wichtiges Anliegen«, versichert die Leiterin Maria Schultz. Die Sonderausstellung »Auf dem rechten Augen blind ...« sei für die Gedenkstätte der Höhepunkt der Saison. Neu ist nicht die Erkenntnis, dass »gerade im Bereich des politischen Strafrechts während der Weimarer Republik eindeutig die Tendenz ›milde gegen rechts, regide Härte gegen links‹ erkennbar ist«, wie Schultz sagt. Aber nun ist auch am Beispiel von Potsdam anschaulich, dass viele Richter und Staatsanwälte bereit waren, »politische Vergehen und Verbrechen von rechts zu verharmlosen und damit nationale Gesinnungen über Rechtsgesichtspunkte zu stellen«. Das habe zum Verlust des Vertrauens in rechtsstaatliche Prinzipien beigetragen und die Errichtung des faschistischen Unrechtsstaats begünstigt.

So sehenswert wie die Ausstellung, so lesenswert ist der dicke Katalog dazu, der nicht nur alle Texte, Dokumente, Fotos und Abbildungen aus der Ausstellung präsentiert und bis auf eine Ausnahme auch eine Verschriftlichung der Inhalte der Hörstationen dokumentiert, sondern noch zusätzliches Material enthält. Unterstützt und damit auch möglich gemacht wurde die Sonderausstellung durch das brandenburgische Justizministerium und die Landeszentrale für politische Bildung sowie den Verein Weimarer Republik.

In einem Vorwort des Katalogs schreibt Oberlandesgerichtspräsident Klaus-Christoph Clavée: »Ich hoffe sehr, dass möglichst viele Bürgerinnen und Bürger den Weg in die Ausstellung finden, diesen Begleitband lesen und sich auf eine Zeitreise in die Vergangenheit begeben, die für die Gegenwart deutlich macht, welche Errungenschaft der demokratische Rechtsstaat ist, aber auch, welchen Gefahren er ausgesetzt ist.«

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