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US-Ukrainestrategie: Am langen Hebel
Die USA debattieren über ein mögliches Ende des Ukraine-Kriegs. Ein schnelles Einlenken ist nicht in Sicht
US-Senator Richard Blumenthal hielt sich nach seinem Besuch in Kiew nicht lange mit Sentimentalitäten auf: »Die Amerikanerinnen und Amerikaner (...) können versichert sein: Wir bekommen, wofür wir bezahlen«, merkte er in der Zeitung »Connecticut Post« trocken an. Damit artikulierte der Demokrat die kalte Logik der US-Interessen in der Ukraine: Der Krieg ist ein guter Deal für die USA. Blumenthal betonte besonders, dass man in der Lage sei, die russischen Streitkräfte zu dezimieren, und das für einen Bruchteil des US-Militärbudgets, ganz ohne den Einsatz von eigenen Truppen. Die Aussagen des Senators sind zynisch – und offenbaren doch, wie man in Washington über den Konflikt denkt.
In der Tat belaufen sich die US-Ausgaben für die militärische Unterstützung der Ukraine laut offiziellen Angaben bisher auf 43 Milliarden US-Dollar. Der Betrag erscheint gigantisch – bis man ihn mit dem gesamten Militärbudget der Vereinigten Staaten von fast 900 Milliarden Dollar vergleicht. Insgesamt wird die US-Bundesregierung im Jahr 2023 Schätzungen zufolge etwa 6,2 Billionen Dollar ausgeben – die Waffenlieferungen an die Ukraine machen nur etwa 0,6 Prozent davon aus – wenig mehr als ein Rundungsfehler. Inklusive der zivilen Hilfsgelder geben die USA für die Ukrainehilfe immer noch nur etwa 0,3 Prozent ihres gesamten Bruttoinlandsprodukts aus. Die nackten Zahlen geben Blumenthal recht.
Die Intervention des Senators kommt dennoch nicht von ungefähr. Sie ist offensichtlich an ein inländisches Publikum gerichtet. Über den Schaden, den sie international verursachen könnten, macht sich Blumenthal offenbar wenig Gedanken. Die öffentliche Meinung in den USA zum Ukraine-Krieg ist zunehmend gespalten: Laut einer Umfrage des Fernsehsenders CNN von Anfang August sind 51 Prozent der US-Amerikaner der Ansicht, die USA hätten bereits genug für die Ukraine getan, eine knappe Minderheit findet hingegen, die Unterstützung solle verstärkt werden. Das Weiße Haus und die Demokraten sehen zunehmend die Notwendigkeit, die Militärhilfe in der Öffentlichkeit zu verteidigen. Blumenthal ist offensichtlich der Ansicht, dass sie hierbei mehr als bisher die US-Interessen herausstellen sollten. Denn in den ersten Wochen des Kriegs waren noch 62 Prozent der Amerikaner der Ansicht, Washington solle seine Unterstützung ausweiten.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Vor allem in der US-Parteipolitik sorgt die Ukraine für neuen Streit – gerade bei den Republikanern. Offensichtlich wurde dies bei der ersten Fernsehdebatte der konservativen Präsidentschaftskandidaten. Die Trennlinie zwischen dem Parteiestablishment – vor allem vertreten durch Nikki Haley, der ehemaligen UN-Botschafterin und Gouverneurin von South Carolina – und den Trump-nahen Kandidaten war nicht zu übersehen. Bei ihrem Auftritt warb Haley nicht nur um Stimmen bei den Vorwahlen, sondern auch um die Zuwendungen der republikanischen Großspender – und die wollen von einem Amerika, das sich in militärischer Zurückhaltung übt, mehrheitlich nichts wissen. Das American Enterprise Institute, einer der einflussreichsten industrienahen US-Thinktanks, kritisierte Bidens Ukraine-Strategie vor kurzem scharf und forderte, dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj »alles zu geben, was er braucht, sobald er danach fragt«. Trumps Stellvertreter auf dem Podium, der Unternehmer Vivek Ramaswamy, hingegen stellte die Ukrainehilfe infrage – was ihn nicht davon abhielt, China immer wieder als Hauptrivalen der USA zu geißeln. Auch im Nato-Bündnisfall werde er nicht zögern, militärischen Verpflichtungen der USA nachzukommen, unterstrich Ramaswamy.
Bei den Demokraten ist auffällig, dass die warnenden Stimmen fast vollständig verstummt sind. Im Herbst vergangenen Jahres setzten sich die Progressiven im Repräsentantenhaus noch in einem Brief an US-Präsident Joe Biden für verstärkte diplomatische Bemühungen zur Konfliktbeilegung ein. Der mediale Aufschrei war groß, die Vorsitzende Pramila Jayapal zog das Schreiben umgehend zurück. Seither ist die Partei strikt auf Linie des Weißen Hauses.
Manche Demokraten sind nahezu erpicht darauf, in dem Konflikt ein Spiegelbild des heimischen Kulturkampfs zu erkennen. Ruben Gallego, demokratischer Anwärter auf den Senatssitz in Arizona, sprach in der Sendung »Pod Save America« – die sich zu einer Art Zentralorgan des linksliberalen Parteiflügels entwickelt hat – von »Millenials« mit »Ohrringen« in einer »woken ukrainischen Armee«, die russische Truppen lachend per Knopfdruck ausschalten würden. Jeder auch noch so flüchtigen Beobachterin sollte klar sein, dass dies nichts mit den tatsächlichen Verhältnissen in der Ukraine zu tun hat. Gallego ist Ex-Elitesoldat, er weiß eigentlich, wovon er spricht. Es muss davon ausgegangen werden, dass er bewusst die Wunschphantasie der eigenen Basis bedient.
Aus der eigenen Partei hat Biden also wenig Gegenwind zu befürchten. Auch deshalb hält er an seinem bisherigen Kurs in der Ukraine fest – einer nahezu bedingungslosen, aber nicht unbegrenzten militärischen Unterstützung Kiews. Im Wesentlichen unterliegt Washingtons militärisches Engagement zwei limitierenden Faktoren: Zum einen wird das Risiko einer nuklearen Eskalation auch von US-Militärplanern immer wieder offen thematisiert, viele bezeichnen es als real und signifikant. Ein gewisses Interesse, Russland nicht über Gebühr zu provozieren oder in die Enge zu treiben, besteht also durchaus. In der Frühphase des Kriegs weigerten sich die USA, eine Flugverbotszone über der Ukraine zu verhängen, weil dies fast unweigerlich direkte Kampfhandlungen zwischen den Luftstreitkräften der Großmächte zufolge gehabt hätte. Appetit auf eine solche Eskalation ist bestimmten neokonservativen Kreisen im Sicherheitsestablishment durchaus zuzutrauen – doch aktuell haben andere das Sagen.
Zweitens sind die militärischen Mittel der Unterstützerkoalition durchaus begrenzt: Vor allem Artilleriemunition wird immer wieder knapp, der ukrainische Verbrauch übersteigt die Produktionskapazitäten deutlich. Grund hierfür ist, dass dieser Krieg schlicht nicht den Szenarien entspricht, auf welche die westlichen Lieferketten ausgerichtet sind: Die Nato-Militärdoktrin geht allgemein von Lufthoheit und von Operationen mit »verbundenen Kräften« – also in Abstimmung der verschiedenen Teilstreitkräfte – aus. Ein Abnutzungskrieg im Schützengraben ist nicht vorgesehen. Hieraus ergibt sich, dass der Konflikt in der Ukraine in der gegenwärtigen Konstellation tatsächlich durch keine Seite militärisch gewonnen werden kann – nicht aber, dass Russland und die Nato allgemein über vergleichbare militärische Fähigkeiten verfügen würden.
Vor Ausbruch des Kriegs warnten US-Generäle noch davor, den Modernisierungsgrad der russischen Streitkräfte zu unterschätzen. Inzwischen hat man ein deutlich klareres Bild über ihren tatsächlichen Zustand. Zwar muss der russische Angriff als Begründung für höhere Rüstungsausgaben innerhalb der Nato herhalten – doch die Militärplaner wissen genau, dass dieser Stellvertreterkrieg sich nicht in derselben Form auf dem Territorium der Allianz wiederholen würde. »Das Argument des Munitionsmangels auf Seiten der Nato ist daher nur im regionalen Kontext der Unterstützung der Ukraine relevant, nicht aber in einer allgemeinen Bewertung der Nato-Verteidigungsfähigkeiten«, erklärt der Historiker Morten Hammeken im linken US-Magazin »Jacobin«.
Nicht nur in der US-Parteipolitik, sondern auch unter Strategieplanern, ist die Debatte um mögliche Ausstiegsszenarien deshalb neu entfacht. In einem vielbeachteten Artikel in der renommierten Zeitschrift »Foreign Affairs« mahnt Samuel Charap, Analyst bei der Rand Corporation, einem der wichtigsten US-Strategiethinktanks, die diplomatischen Bemühungen um ein Ende der Kampfhanglungen müssten endlich ernsthaft verfolgt werden. Ein militärischer Offiziersstab mit über 300 Mitarbeitern sei mit der Kriegsplanung beschäftigt, aber es gebe keinen einzigen US-Diplomaten, der offiziell mit der Ukraine-Frage als Hauptaufgabe betraut sei, kritisiert Charap. Als wesentliches Risiko für die USA führt der Analyst eine Eskalation des Konflikts über die Grenzen der Ukraine hinaus und den Einsatz von Massenvernichtungswaffen an. Einen Friedensvertrag hält er für wenig realistisch. In Reichweite sei aber möglicherweise ein dauerhafter Waffenstillstand ohne offizielle Gebietsabtretungen, wie etwa im Koreakrieg. Die Medienlandschaft reagierte über das politische Spektrum hinweg aufgeschlossen, von »New York Times« bis »Fox News«.
Alles in allem wäre es nicht überraschend, wenn die weitere Evolution der US-Strategie weniger von den Entwicklungen in der Ukraine abhängt, sondern von der politischen Dynamik zu Hause. Der Konflikt ist weniger als tausend Kilometer von Moskau, aber 8000 Kilometer von Washington entfernt. Als Projektionsfläche für innenpolitische Auseinandersetzungen bietet er sich geradezu an.
Bei seinem jüngsten Besuch in Kiew betonte Außenminister Antony Blinken die Bedeutung der Ukraine für die ganze Sicherheit der gesamten »euroatlantischen Gemeinschaft«. Allerdings stellt diese bei Weitem nicht mehr die oberste strategische Priorität für die USA dar. Der Dissens im Washingtoner Sicherheitsestablishment – jenseits der vereinzelten Kriegsgegner in den beiden großen Parteien – rankt sich vor allem um die Frage, ob die Unterstützung der Ukraine eine gefährliche Ablenkung von der »Einhegung« Chinas darstellt oder zu dieser beiträgt.
Bislang gibt es wenig Hinweise darauf, dass Biden im Begriff ist, seine Ukrainepolitik in naher Zukunft signifikant anzupassen. Die öffentliche Meinung mag sich langsam wandeln, doch Bidens Regierungsstil zeichnet sich nicht durch plötzliche Kurswechsel aus. Wenn überhaupt, erfolgt die Strategieanpassung langsam und kaum wahrnehmbar. Grund zur Eile gibt es aus Bidens Perspektive nicht: Das Thema ist im Wahlkampf eines unter vielen, das Interesse der breiten Öffentlichkeit hält sich in Grenzen. Auch aus strategischem Blickwinkel hat Biden viele Optionen. Zwar betonte Außenminister Blinken bei seinem Besuch in Kiew, Ziel sei eine langfristige Friedenslösung – von unmittelbaren diplomatischen Initiativen oder einem Abrücken vom offiziellen ukrainischen Kriegsziel der vollständigen Rückeroberung der besetzten Gebiete, inklusive der Krim, war allerdings nicht die Rede. Solche Aussagen sind auch nichts Neues. Bereits im Mai 2022 hatte Biden in einem Meinungsbeitrag für die »New York Times« Ähnliches anklingen lassen.
Die Debatte um ein mögliches Kriegsende läuft in den USA also erst an. An sich ist dies zu begrüßen. Doch man sollte sich keine Illusionen machen: Der Handlungsdruck auf die Regierung ist momentan nicht sonderlich hoch. Gut möglich, dass Biden vor den Wahlen diplomatische Erfolge vorweisen will. Ob er bis dahin seine Position merklich anpasst, bleibt abzuwarten. Unter Zugzwang ist der US-Präsident derzeit nicht.
Der Ukraine-Krieg ist für Washington wichtig, aber nicht essentiell. Die Strukturen der Nato sind bereits jetzt gegenüber dem Vorkriegszustand deutlich gestärkt, die Führungsrolle der USA darin so unbestritten wie nie zuvor. Selbst ein vollständiger russischer Sieg in der Ukraine – unwahrscheinlich wie er gegenwärtig ist – würde diese strategischen Zugewinne kaum gefährden. Die Menschen in der Ukraine mögen in dem Konflikt viel zu verlieren und wenig zu gewinnen haben. Aus der US-Perspektive ist eher das Gegenteil der Fall.
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