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Mehringplatz in Kreuzberg: Revolutionär gegen Verwahrlosung
Der »Revolutionäre Anwohner*innenrat« will die Probleme am Mehringplatz in Kreuzberg selbst angehen
Ein wenig wirkt der Mehringplatz deplatziert: Nördlich von dem Hochhausensemble erstreckt sich rund um die Friedrichstraße die repräsentative Mitte mit ihren Ministerien und Botschaften. Im Süden, vor dem Halleschen Tor, liegt der seit ehedem kleinbürgerliche Bergmannkiez, bei Touristen wegen seiner pittoresken Gründerzeitbauten beliebt. Am Mehringplatz, im Westen von Kreuzberg, mischen sich dagegen Grautöne mit verwaschenem Graffiti. Die Hochhausreihen, die sich um das charakteristische Rondell mit der Viktoria-Statur anordnen, würde man wohl eher am Stadtrand vermuten. Als die Siedlung 1971 errichtet wurde, handelte es sich auch noch um den Stadtrand, die Mauer war nicht mal einen Kilometer entfernt. Führt man heute einen Finger auf einer Karte in die geografische Mitte Berlins, landet man am Mehringplatz. Start-ups oder schwäbelnde Schnurrbartträger werden sich hier aber wohl nie ansiedeln.
»Manchmal habe ich den Eindruck, der Platz hier ist allen nur noch scheißegal«, sagt Daniela Glowka. Im unweit entfernten Urban-Krankenhaus ist sie geboren, erzählt sie. »Seitdem bin ich nicht weit gekommen.« Ihr ganzes Leben wohnt die 44-Jährige schon in einem der Hochhäuser. Glowka sagt: »Ich kenne die Leute hier, die Generationen, die nach mir gekommen sind.« Der Platz kippt, findet sie. Die Probleme in der innerstädtischen Sozialsiedlung trieben viele Anwohner inzwischen zur Verzweiflung.
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Ein Blick in die Statistik, die das örtliche Quartiersmanagement führt, verrät viel über die etwa 6000 Menschen, die hier auf weniger als einem Viertelquadratkilometer leben. Der Kiez ist der ärmste der Berliner Innenstadt. 40 Prozent der Bewohner empfangen Sozialleistungen. Viele arbeiten unter prekären Bedingungen und müssen aufstocken. Drei Viertel der Anwohner haben einen Migrationshintergrund. Der Senat führt die Siedlung seit 2005 als Sanierungsgebiet Kategorie 1, starke Intervention. 6,4 Millionen Euro stehen bereit, um soziale Härten zu mildern, ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Das erste Mal tauchte der Begriff »sozialer Brennpunkt« in Verbindung mit dem Mehringplatz Anfang der Neunziger in den Zeitungen auf, geändert hat sich seitdem wenig. Im Gegenteil: Zwölf Jahre lang wurde die Grünfläche im Zentrum des Platzes umgebaut, erst baute der Bezirk, dann die BVG und dann wieder der Bezirk. »Kreuzbergs BER« nannten die Anwohner die Baustelle. Dazu kam ein Privatvermieter, der die Häuser an der Westseite des Platzes verfallen ließ und Gewerbetreibende mit überzogenen Mietforderungen vertrieb. Die Ladenzeilen an der westlichen Flanke des Rondells stehen seitdem größtenteils leer.
Zuletzt wirkte es kurz so, als würde der Platz die Kurve noch bekommen: Der Umbau des Rondells ist inzwischen abgeschlossen, an heißen Sommertagen ist die Grünfläche voller Besucher. Die Immobilien an der Westseite wurden von der landeseigenen Howoge übernommen und werden nun saniert, Gewerbe wie ein großer Fahrradladen haben sich neu angesiedelt. Doch dann kam der nächste Rückschlag: Der Edeka am nördlichen Ende der Siedlung schloss. Für die Anwohner bleibt jetzt nur noch ein kleiner arabischer Laden als Nahversorger, in dem es schon vor dem Ende von Edeka eng war. Der nächste reguläre Supermarkt ist knapp einen Kilometer entfernt.
Für Daniela Glowka war das der Punkt, an dem sie die Verwahrlosung nicht mehr hinnehmen wollte. Mit anderen Anwohnern gründete sie die Bürgerinitiative »Revolutionärer Anwohner*innenrat« (RAR). Auch Gewerbetreibende sind beteiligt. Der Name sei eine Anspielung auf die revolutionären Arbeiterräte, die Erich Mühsam in der Münchner Räterepublik ausgerufen hatte, erzählt ihr Mitstreiter Markus Liske. Der Schriftsteller wohnt seit neun Jahren am Mehringplatz. »Wir wollen Gegenwehr von unten aufbauen«, ergänzt Karin Lücker, die den lokalen Verein »Globale« gegründet hat und auch zur Initiative gehört.
Der Verlust des Supermarkts, erzählt Liske, sei für die Anwohner nicht nur strapaziös, er verändere auch das soziale Gefüge am Platz. »Viele ältere Leute gehen jetzt gar nicht mehr raus«, sagt er. Stattdessen ließen sie sich ihre Einkäufe liefern. Der soziale Kontakt gehe so verloren, man trifft sich nicht mehr. Eigentlich sollte in das Erdgeschoss eines Hochhauses ein spanischer Supermarkt einziehen, doch auf der betroffenen Ladenfläche sieht man nichts als kahle Säulen. Und auch wenn der spanische Supermarkt mal einziehen sollte, würden sich wohl viele Anwohner nicht von dem Angebot angesprochen fühlen. In der Initiative überlegt man daher schon, einen selbstverwalteten Supermarkt aufzubauen, erzählt Karin Lücker.
Bei einer ersten Aktion Ende August protestierte der Anwohner*innenrat vor dem nun leerstehenden Edeka-Gebäude. Mehrere Dutzend Menschen beteiligten sich an der Kundgebung. »Viele andere haben am Balkon gestanden und zustimmend genickt«, sagt Glowka. Mehrere, teils 20 Meter lange Banner wurden verteilt, die jetzt an den Fassaden hängen. »Wo sollen die Kinder spielen?« steht auf einem. »Wer finanziert die Jugendarbeit?« auf einem anderen, angebracht am Haus der Kreuzberger Musikalischen Aktion, einem Jugendzentrum mit Bandproberäumen, das zwar marode und teilweise einsturzgefährdet ist, aber nicht vor 2035 saniert werden soll.
»Wer repariert den Aufzug?« steht auf einem weiteren Banner. Für viele Anwohner ist das eines der drängendsten Probleme. »In allen Häusern klagen die Leute über Probleme mit den Fahrstühlen«, sagt Glowka. Viele hätten sich schon daran gewöhnt, dass der Aufzug wochenweise ausfällt. »Bei mir im Haus hielt der Aufzug anderthalb Jahre lang nicht auf einem Stockwerk«, sagt Liske. Erst als die Presse aufmerksam wurde, sei der Aufzug repariert worden. Für ältere und behinderte Anwohner sei das ein Horror. »Die Pflegedienste sagen dann auch, dass sie die ganzen Treppen nicht hochsteigen wollen«, erzählt Glowka.
Unzufrieden ist die Initiative vor allem mit dem Agieren der Gewobag, die die Häuser auf der Ostseite der Siedlung vermietet. »Die Häuser verrotten«, sagt Liske. »Eigentlich würde man von einer öffentlichen Wohnungsgesellschaft erwarten, dass sie sich mieterfreundlich verhält, aber in der Praxis erkennt man kaum einen Unterschied zur Deutsche Wohnen.« Die Hausmeister seien schlecht erreichbar, statt Umbauarbeiten in den Wohnungen würden häufig nur notdürftige Reparaturen durchgeführt. »Eigentlich müsste man mal alle Leute hier auffordern, einen Monat lang keine Miete zu zahlen«, sagt Karin Lücker – oder zumindest über die Möglichkeit der Mietminderung aufklären.
Dazu kommt, dass zum Ende des Jahres das Mieten-Moratorium in den kommunalen Wohnungsgesellschaften endet. Der Senat hatte in der Energiekrise für ein Jahr Mieterhöhungen bei den Wohnungsversorgern ausgesetzt. Viele Anwohner blicken jetzt jeden Tag mit Angst vor Post von der Gewobag in den Briefkasten. »Viele glauben, dass sie die Miete bald nicht mehr stemmen können«, sagt Glowka. Im schlimmsten Fall könnten die Mieten in manchen Wohnungen dann über die Grenze steigen, bis zu der das Jobcenter sie bei Bürgergeldempfängern trägt.
Die Mieterhöhungen könnten eine Entwicklung fortschreiben, die Liske schon jetzt beobachtet. »Es werden immer mehr Menschen verdrängt«, sagt er. »In meinem Haus ist inzwischen alles voller Studenten, für die Mama und Papa die Miete zahlen.« In einen Neubau der Gewobag auf der Rückseite des Platzes würden schon jetzt höhere Mieten als im Rest des Viertels erhoben. Der Kiez drohe sich den nahegelegenen Vierteln anzupassen, die von Kulturschaffenden geprägt sind. »Manchmal habe ich den Eindruck, dass diese Entwicklung auch politisch gewollt ist.«
Vor allem ein Ort steht symbolisch für diese Entwicklung: In einer ehemaligen Ausgabestelle der Tafel ist vor einem Jahr ein hochwertiges Restaurant eingezogen, das »authentische« vegane neapolitanische Pizzen verkauft, eine Pizza kostet 16 Euro. Passiert man die Pizzeria am Südende des Platzes, sieht man wenig ortstypisches Publikum, das sich vorwiegend auf Englisch unterhält. Auch die Bedienung spricht nur Englisch.
Eine Hecke trennt das finanzstarke Publikum von einer Gruppe Trebegänger, die auf der angrenzenden Grünfläche sitzen. Manche tragen trotz 30 Grad Mittagshitze lange Mäntel, wohl um Einstiche an den Armen zu verbergen. Zwei Hunde spielen zwischen leeren Schnapsflaschen. Stimmen erheben sich, doch der Streit klingt nach wenigen Sekunden schon wieder ab.
Die Gegend um die U-Bahnaufgänge sei schon länger ein Treffpunkt für die Trinker- und Drogenszene gewesen, sagt Benedikt Stoll, der sich ebenfalls im Anwohner*innenrat engagiert. »Seit die Polizeiwache am Kottbusser Tor eröffnet wurde, hat sich das Problem verschärft.« Viele Abhängige seien auf den Mehringplatz ausgewichen. Jetzt käme es immer wieder vor, dass sich Obdachlose in Treppenhäusern einrichten. In den Sommermonaten, wenn die Baumkronen vor neugierigen Blicken aus den umliegenden Hochhäusern schützen, sind die Grünflächen ein reger Drogenumschlagplatz. Dazu kommen lokale Gruppen von Halbstarken, die immer wieder in Konflikt mit dem Gesetz geraten. Auch homophobe Angriffe hat es hier schon gegeben.
»Neulich haben mich arabischstämmige Nachbarn angesprochen, ob ich bei einer Bürgerwehr mitmachen will«, sagt Markus Liske. »Das geht natürlich auch nicht, aber es zeigt, wie verzweifelt die Leute sind.« Den Sicherheitsdienst der Gewobag gebe es schon länger nicht mehr, obwohl schon die Anwesenheit von Uniformierten geholfen habe.
Dabei will der Rat die Abhängigen und Obdachlosen gar nicht mit Gewalt vertreiben. »Wir haben immer gesagt, wir sind eine Initiative für alle hier am Platz«, sagt Liske. Eine mobile Polizeiwache, wie sie wieder diskutiert wird, lehne er ab. »Man kann das Problem nicht mit Polizei lösen.« Stattdessen sollte eine Drückerstube eingerichtet und Straßensozialarbeit gestärkt werden. Ein Träger in der Obdachlosenhilfe habe Interesse an einer dau Einrichtung am Platz gehabt, aber könne keine Räume finden, berichtet er.
Die Initiative will nach der ersten Kundgebung am alten Edeka jetzt zusammenkommen, um Forderungen an Bezirk und Senat zu erarbeiten. Es soll aber nicht nur bei Reden bleiben: »Wir wollen zeigen, was geht«, sagt Karin Lücker. Mit konkreten Projekten sollen die Probleme im Kiez auch selbst angegangen werden. Aktuell werde etwa über eine selbstorganisierte Putzgruppe diskutiert, die für mehr Sauberkeit sorgen soll.
»Es kann nicht immer an der Politik scheitern«, sagt Lücker – und erzählt von einem Beispiel für praktischen Widerstand gegen die »Maßnahmen von oben«: Auf dem umgebauten Platz macht der Weg am Ende einen Knick. Viele Anwohner wollen aber offenbar lieber weiter geradeaus gehen, sodass inzwischen ein Trampelpfad entstanden ist. An dessen Ende steht ein kleines Mäuerchen, das die Wildpassanten noch überwinden müssen. Unbekannte haben jetzt einen Stein so platziert, dass er als Treppe genutzt werden kann. »Ein Beispiel für zivilen Widerstand«, findet Lücker. So beginnt die Revolution im Kleinen.
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