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»Solange Straffreiheit herrscht, ist das ›Nie wieder‹ brüchig«

Der Geschichtsprofessor Igor Goicovic über die jahrelange Leugnung systematischer Menschenrechtsverbrechen

  • Interview: Malte Seiwerth
  • Lesedauer: 6 Min.
Im Estadio Nacional (Nationalstadion) in Santiago wurden Oppositionelle festgehalten, gefoltert und hingerichtet. Das Foto entstand im September 1973.
Im Estadio Nacional (Nationalstadion) in Santiago wurden Oppositionelle festgehalten, gefoltert und hingerichtet. Das Foto entstand im September 1973.

In Chile jährt sich der Militärputsch zum 50. Mal und noch immer gibt es keinen Konsens über die historischen Vorgänge und Gründe. Warum?

In Lateinamerika haben die Eliten permanent versucht, die herrschende Meinung zu prägen und so eine einheitliche Stimmung vorzutäuschen. Bei ihnen heißt das »historische Wahrheit«. Zur Zeit der Hundertjahrfeier in den lateinamerikanischen Ländern, um 1910, versuchten sie etwa, eine einheitliche Meinung über die europäische Kolonialisierung herzustellen. Damals gab es keine kritische Aufarbeitung der Eroberung, und man ging davon aus, dass die übriggebliebenen Indigenen »zivilisiert« werden sollten. Dieser »Konsens« existiert so heute nicht mehr. Den damaligen »Konsens« über die Kolonialisierung Lateinamerikas könnte man mit der Rechtfertigung der Militärs vergleichen, die sagen, die menschlichen Kosten der Diktatur, sprich die ermordeten und gefolterten Personen, seien wegen der Bedrohung durch den Kommunismus gerechtfertigt.

Das war während der Militärdiktatur. Nach der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1990 verurteilte ein Großteil der chilenischen Zivilgesellschaft und Parteien die Menschenrechtsverletzungen.

Während der Übergangsprozesse der 90er Jahre in ganz Lateinamerika schufen die Kirche, die USA, die herrschenden Eliten und einige Gewerkschaften einen neuen Scheinkonsens. Menschenrechtsverletzungen wurden zwar beklagt, man leugnete aber, dass sie systematisch waren, und meinte stattdessen, dass es sich um die Exzesse bestimmter Einzelpersonen gehandelt habe. Auf diese Weise war es möglich, zu einer politischen Harmonie zurückzukehren, die angeblich vorher bestand.

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Konsens hat in Ihrer Darstellung immer etwas Scheinheiliges.

Ich glaube nicht an Konsens, schon gar nicht daran, dass es die Aufgabe der Geschichtswissenschaft sei, ihn zu produzieren. Wenn überhaupt, dann sollte sie die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen ermitteln. Auf Basis davon müsste die Grundlage für den Aufbau einer Erinnerungskultur geschaffen werden, die zur Entstehung einer demokratischen Gesellschaft und der Wahrung der Menschenrechte beiträgt. Es geht darum, die Verantwortung für die Probleme zu übernehmen, die historisch entstanden und bis heute fortwirken. Nun deutet allerdings alles darauf hin, dass die Regierung versucht, einen neuen Scheinkonsens zu schaffen.

Was meinen Sie damit?

Die Regierung fokussiert ihre Arbeit auf Gedenkveranstaltungen. Das ist keine politische Strategie, um historische Probleme anzugehen und als Gesellschaft voranschreiten zu können, sondern eine Kommunikationsstrategie, die politische Stabilität erzeugen soll.

Zum einen geht die Regierung dabei auf die Organisationen von Opfern der Militärdiktatur und ihrer Familienangehörigen zu. Eine Gruppe, die aufgrund des steigenden Alters immer kleiner wird und es immer weniger schafft, mit den eigenen Forderungen die Gesellschaft zu erreichen. Dort sind Menschenrechte zurzeit keine Priorität. Diesen pädagogischen Kampf haben wir leider vor Jahren verloren. Daher schießt die Regierung hier ein paar Fotos, eröffnet neue Gedenkorte und kündigt Hilfsprogramme an, um die übrigbleibende Wähler*innenschaft glücklich zu stimmen. Am Ende bleibt allerdings nichts übrig.

Andererseits wendet sich die Regierung an die herrschenden Klassen und versichert ihnen, dass sie nichts unternehmen wird, um die Beziehung mit ihnen zu gefährden. Konkret bedeutet das, man bezieht sich auf die Menschenrechtsverletzungen und spricht nicht über den Sozialismus, die Arbeiter*innenklasse oder das politische Projekt der Unidad Popular.

Der Konsens der 90er Jahre beinhaltete auch das Versprechen des »Nunca más« (»Nie wieder«). Warum ist es nicht dazu gekommen?

Das Versprechen des »Nie wieder« stützte sich auf den Wahrheits- und Versöhnungsbericht aus dem Jahr 1991, an dem Historiker mitwirkten, die entweder konservativ oder in der politischen Mitte angesiedelt waren. Der Bericht der Kommission enthüllte die Hintergründe der Ermordeten, stellte aber weder die Verantwortlichen fest, noch ermöglichte er es, die Verantwortlichen auf Grundlage der Hintergründe zu finden. Auch die institutionellen Verantwortlichkeiten wurden nicht genannt. Ich beziehe mich auf den Staatsapparat, die Wirtschaft, die politischen Parteien und einige konservative Sektoren, die die Gewalt unterstützt hatten. Solange Straffreiheit herrscht, ist ein »Nie wieder« sehr brüchig.

Allerdings gibt es heute aufgrund von Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur verurteilte Militärs. Gab es einen Wandel in den vergangenen 30 Jahren?

Die Verhaftung des ehemaligen Diktators Augusto Pinochet in London im Jahr 1998 war ein Wendepunkt. Denn ab dann wurden gewisse Normen in Bezug auf verschwundene Gefangene neu ausgelegt. Dies ermöglichte, einige der Verantwortlichen – man könnte sagen die vorderste Front – wegen Menschenrechtsverletzungen zu inhaftieren.

Was jedoch nicht geschah, war eine Analyse der institutionellen Verantwortlichkeiten. Also diejenigen betreffend, die während der Diktatur zivile Ämter in den Stadträten oder der Regierung innehatten und dann in der Demokratie weiterhin politische Ämter ausübten. Wir sehen, dass seit den Protesten von 2006 die Menschenrechte weiterhin in hohem Maße ungestraft verletzt werden. Die Verletzung und Folterung derjenigen, die von ihrem Recht auf Protest Gebrauch machen, bleibt praktisch ungestraft.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, als Verantwortlicher der Regierung oder der Universität Aktivitäten zum Gedenken an den Staatsstreich zu planen, was würden Sie tun?

(Lacht) Das sind zwei unterschiedliche Szenarien. Wenn ich in der Regierung wäre, würde ich als erstes zurücktreten. In der Universität bin ich jedoch Teil des Ausschusses, der für die Organisation der Gedenkfeierlichkeiten zum Staatsstreich zuständig ist. Die USACH, unsere Universität, wurde am 11. September von der Artillerie der Armee bombardiert. Vom Universitätsgelände wurde Victor Jara entführt und später hingerichtet. Wir haben viele entlassene Studierende und Professoren, von denen einige ermordet wurden. Das ist so etwas wie ein Markenzeichen der USACH. Aber die Diktatur hat auch den Namen der Universität geändert. Sie ist nicht mehr die Technische Universität des Staates, sondern heißt nun Universität von Santiago de Chile.

Heute ist sie eine Universität, bei der viele Leute versuchen, ihre ehemaligen Rollen und Funktionen zu kaschieren. Wenn wir darüber diskutieren, wie wir an die Diktatur erinnern, gehöre ich zu denen, die sagen, dass unsere interne Geschichte – das heißt die Geschichte, die zeigt, dass es Kollaboration mit der Diktatur gab, dass es Spitzel gab, dass es Sicherheitsorgane in der Universität gab – offengelegt werden muss. Dies aufzuzeigen, ist politisch nicht gewollt. Denn auf der Mikroebene wie auch auf der nationalen Ebene gibt es Themen, die bis heute schwierig zu behandeln sind. Aber wenn wir wirklich eine historische Heilung herbeiführen wollen, sollten wir offenlegen, was geschehen ist.

Interview
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Igor Goicovic ist Geschichtsprofessor an der Universidad de Santiago de Chile (USACH). Er kämpfte gegen die Militärdiktatur und verbrachte dafür mehrere Jahre im Gefängnis. Derzeit forscht er zu politischer Gewalt in Lateinamerika und der Repression durch die chilenische Diktatur.

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