Quilapayún: In Ponchos gegen die chilenische Diktatur

Die Band Quilapayún wollte den demokratischen Sozialismus von Chile in die Welt hinaustragen und landete im französischen Exil. Heute ist sie ein Mehr-Generationen-Projekt

  • Nils Brock
  • Lesedauer: 8 Min.
Zur Abschiedsparty von Bandmitglied Willy Oddó in Colombes, kurz vor seiner Rückkehr nach Chile 1988, kamen alle. Im Bild u.a. Carrasco vor dem Regal, Willy (mit dem Schnauzer) links daneben mit seiner Partnerin Rayen, vor ihnen (abgewandt) Marcelas Mutter Kela, Ricardo zwischen Bücherregal und Bild und Ismael vorn im schwarzen Pulli.
Zur Abschiedsparty von Bandmitglied Willy Oddó in Colombes, kurz vor seiner Rückkehr nach Chile 1988, kamen alle. Im Bild u.a. Carrasco vor dem Regal, Willy (mit dem Schnauzer) links daneben mit seiner Partnerin Rayen, vor ihnen (abgewandt) Marcelas Mutter Kela, Ricardo zwischen Bücherregal und Bild und Ismael vorn im schwarzen Pulli.

Am 11. September 1973 sitzt Eduardo Carrasco in Paris auf einer Pressekonferenz. Da fliegt die Tür auf, jemand schreit: »Es hat es einen Militärputsch gegeben.« Dem sonst wortgewandten Leiter der chilenischen Folkband Quilapayún verschlägt es die Sprache. »Alles war so ungewiss. Furchtbar. Wegen der Nachrichtensperre kochten die Gerüchte hoch, kaum auszuhalten.«

Was tun? Als Kulturbotschafter der Andenrepublik mussten die Musiker reagieren. Schließlich sollte ihre Tournee auch die Idee des demokratischen Sozialismus in die Welt tragen. Noch wenige Tage zuvor hatten Quilapayún auf der Konferenz blockfreier Staaten in Algerien einen gefeierten Auftritt hingelegt. Ihre wilden Frisuren und schwarzen Ponchos hatten längst Kultstatus. Überhaupt war die chilenische »Revolution mit Rotwein und Empanadas« bei undogmatischen Linken in aller Munde. Dass Präsident Salvador Allende wegen der politischen Spannungen in Chile nicht in Algier sprach, wird von den Musikern als Weitsicht gedeutet, nicht als Gefahr. »¡Venceremos!« (Wir werden siegen) singen sie seit Allendes Wahlsieg vor drei Jahren. Der Putsch macht diese Zuversicht zunichte.

»Wir wollten unbedingt ein Signal senden und besetzten kurzerhand die chilenische Botschaft in Paris«, erinnert sich Carrasco im Gespräch mit dem »nd«. Das würde den Militärs zeigen, wie isoliert sie sind. Lange konnte diese Farce uniformierter Capeträger schließlich nicht dauern. »Doch unsere Aktion verpuffte, der Protest führte zu nichts, und langsam dämmerte uns, dass wir unser Leben grundlegend neu organisieren mussten.«

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Fest steht anfangs nur: Quilapayún würde das für den 17. September geplante Konzert in der Pariser Musikhalle Olympia nicht absagen. Die Gruppe singt »Santa María de Iquique«, ein zeitgenössisches Stück, das an ein historisches Massaker des chilenischen Militärs an protestierenden Bergarbeitern erinnert. »Das Thema war passend, das Theater voll, man hatte das Gefühl, jeder im Publikum wollte sich gegen den Putsch aussprechen. Es war ein trauriger und schmerzhafter Abend, aber wir mussten spielen«, erzählt Carrasco. Hinter der Bühne können die Bandmitglieder auch erstmals mit ihren Familien telefonieren. Sie erfahren, dass es Schwarze Listen gibt, die eine Rückkehr nach Chile unmöglich machen. Stattdessen beginnt an diesem Abend ein neues Kapitel der Bandgeschichte: Quilapayún wird zu der musikalischen Stimme gegen die Diktatur.

»Ich erinnere mich an ihre Konzerte in Frankreich. Ich stand meist in der ersten Reihe und sang mit, so gut ich konnte, denn eigentlich sprach ich kein Spanisch.« Marcela Venegas Santander kommt 1981 in Frankreich zur Welt, als Tochter des Musikers Ricardo Venegas, der erst einige Zeit nach dem Putsch zur Band stößt. Quilapayún braucht damals neue Mitglieder und »dass sie ihn engagierten, hat er meiner Mutter zu verdanken«, sagt Marcela. »Eduardo Carrasco fragte sie am Telefon, was für Instrumente Ricardo beherrsche, und sie so, er spielt alles: Quena, Zampoña, Gitarre, Charango, Tiple, Bassgitarre. Nach dem Anruf sagt sie zu ihm: ›Besser, du lernst jetzt noch ein paar Instrumente spielen, es geht ab nach Frankreich.‹« Genauer gesagt, nach Colombes.

In der Industriestadt im Norden von Paris regiert seit 1965 der kommunistische Bürgermeister Dominique Frelaut. »Er verschaffte uns einen Platz in einem Block neuer Sozialwohnungen, die ohnehin für Flüchtlinge vorgesehen waren«, beschreibt Carrasco. Für Marcela und alle anderen im Exil Geborenen ist es das erste Zuhause, eine Art Kommune über mehrere Stockwerke. »Im Gegensatz zu unseren Eltern empfanden wir hier nie jene Entwurzelung«, erzählt Ismael Oddó im Rückblick auf seine Kindheit. »Es waren sehr glückliche Tage.« In den Nächten gibt es oft Hauskonzerte, sein Vater, Willy Oddó, singt und spielt dann am liebsten Tangos und Zambas. Wenn es den Kindern zu viel wird, verziehen sie sich vor den Fernseher, toben durchs Treppenhaus oder spielen in einer leeren Wohnung. »Die arme Marcela«, lacht Ismael, »als Kleinste durfte sie nicht immer mitmachen, aber gesehen hat sie sicher einiges.«

Marcela bekommt tatsächlich mehr mit, als die Großen glauben. Sie erinnert sich, wie ihr Vater weinte, »wenn er seine Eltern in Chile vermisste«, an die Tränen einer Mitschülerin aus Nordafrika, die in der Schule gemobbt wurde. Auch Marcela wird oft für »eine kleine Araberin« gehalten. »Wie rassistisch Frankreich tickt, war schnell klar.« Nur zu Chile fällt den Bullies in der Schule wenig ein: »Sie wussten schlicht zu wenig, hatten noch nie von Südamerika gehört. Wir dagegen bedachten sie ungestraft mit Schimpfwörtern.«

Bis heute teilen Marcela, Ismael und die anderen Kinder der Quilapayúns nostalgisch-witzige Anekdoten in einer Messenger-Gruppe. Andere Geschichten werden eher vorsichtig hervorgeholt, bei persönlichen Treffen. Oft beginnen diese Erzählungen mit Fragen, bei denen ihre Eltern damals um Antworten rangen: »Warum sprechen alle hier weiter Spanisch, wenn wir doch in Frankreich leben?«, will die kleine Marcela einmal wissen. »Und warum hört ihr nie Platten von Víctor Jara, wo ihr doch ein Foto von ihm aufbewahrt?«, wirft Ismael als Jugendlicher beim gemeinsamen Abendessen in die Runde. »Als ich das fragte, sackte mein Vater am Küchentisch zusammen. Dann erzählte er mir, wie wichtig Víctor für den ›Stamm der Quilapayún‹ gewesen sei, als Mentor, für die ersten Schritte auf der Bühne, wie er ermordet wurde, warum sie für ihn und die Menschenrechte sangen, in Spanisch, der Sprache der Liebe, der Sprache der Überlebenden.«

Es ist auch diese Verpflichtung, die Quilapayún Ende der 80er Jahre zurück nach Chile treibt. 1988 stimmt Chile über eine Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie ab. Auf der letzten großen Demonstration gegen die Machthabenden intonieren Carrasco und seine Mitstreiter erstmals wieder »El Pueblo Unido«, jenes hoffnungsvolle Lied, das 1970 die Wahl Allendes begleitete. Und tatsächlich: Die von den Militärs als demokratisches Feigenblatt geplante Volksabstimmung besiegelt mit einer einfachen Mehrheit ihr Ende.

»Anfang 1989 unternahmen wir dann eine Tournee von Nord nach Süd, durch das ganze Land«, erinnert sich Carrasco. »Nur, ohne es zu merken, hatten wir uns vom chilenischen Publikum entfernt. Wir wollten neue Stücke spielen, sie nur alte Lieder hören.« Ein anderes Problem war, dass längst nicht alle Bandmitglieder zurück wollten. Das lag nur bedingt an den französischen Partnerinnen einiger Musiker, meint Ismael. »Auch meine Mutter warnte meinen Vater vor zu vielen Illusionen: ›Willy, vieles wird den Putsch nicht überlebt haben.‹« Dennoch kehrt bis 1992 die Hälfte der Band nach Chile zurück, doch musikalisch verschwindet sie von der Bildfläche.

»Die Enttäuschung nach der Rückkehr war absolut. Es gab keine Gerechtigkeit, keine Transparenz. Das bekam sogar ich mit 16 Jahren mit«, sagt Ismael. Als in Frankreich aufgewachsene Kinder von Exilanten können Marcela und er kostenfrei die Privatschule Alliance française in Santiago besuchen. »Die Schuluniformen waren genauso ätzend wie die meisten Mitschüler. Es war ein echter Kulturschock«, sagt Marcela. Nur langsam findet sie Anschluss, bei Ismael ist es ähnlich. Freundschaften entstehen vor allem mit denen, die auch im Exil geboren wurden. »Wir redeten über alles, was uns in Chile auffiel: politische Gefangene, unkritische Medien, Klassenunterschiede, Gerüche, schlechte Musik«, versucht sich Ismael in einer Rückblende. »Gemeinsam entdeckten wir auch Breakdance und Rap-Musik. Public Enemy, IAM, McSolar. Das waren unsere kulturellen Fluchtpunkte. Sich zu dieser Musik zu bewegen, war befreiend.«

Auch die Elterngeneration ist auf der Suche: nach Arbeit, Perspektiven und einem sozialen Miteinander. »Meine Mutter gründete schließlich ein Beratungszentrum für häusliche Gewalt. Später machte sie erfolgreich Lokalpolitik.« Carrasco findet eine Stelle an der Universität, Ricardo als Geologe, Willy bei der Stadtverwaltung. »Aber ihr Herz hing weiter an den Quilas«, sind sich die Kinder einig. Statt auf die Bühne zurückzukehren, werden die 1990er Jahre zu einer harten Probe. Willy Oddó wird 1991 ermordet, Opfer des unberechenbaren Nachtlebens Santiagos. Derweil veröffentlichen ehemalige Bandmitglieder in Frankreich neue Alben und geben Konzerte, es folgt ein langer Rechtsstreit, der irgendwann kaum noch jemanden interessiert.

Paris 2002. Seit drei Jahren lebt Ismael wieder in Frankreich. Gerade komponiert er Musik für ein Stück der Kompanie Teatro de Silencio. Hier setzt er um, was er am Konservatorium und am Teatro de la Mancha in Santiago gelernt hat. »Und dann ruft mich eines Tages Carrasco an und erzählt, er plane eine Wiedersehens-Tournee. Er lädt mich ein, mitzumachen, weil er mich als Künstler schätze und weil meine Präsenz auf gewisse Weise den Spirit von Willy wachhalten würde.« Er muss nicht lange überlegen.

Das erste Konzert findet ein Jahr später im früheren Nationalstadion von Santiago statt. Jetzt trägt es den Namen Víctor-Jara-Stadion, in Erinnerung aller, die hier nach dem Putsch gefangen, gefoltert und ermordet wurden. Nun, 30 Jahre später, stehen auf den Rängen Ismaels Mutter, Marcela und viele andere Angehörige und Freunde. Die Show ist ausverkauft. »Wir mussten lernen, uns neu auszurichten und die aktuellen Debatten im Land anzunehmen. Das hat funktioniert«, analysiert Carrasco rückblickend. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Zum Repertoire gehören auch wieder die Lieder aus den Zeiten Allendes, die bis heute auf keinem Konzert fehlen dürfen, sagt Ismael. »Los ging es an diesem Abend mit ›El Pueblo Unido‹. Ich stand da, zusammen mit den anderen, im Poncho meines Vaters. Wenn mir das Leben ein Geschenk gemacht hat, dann diesen Moment.«

Der Rest ist schnell erzählt: Eduardo Carrasco ist bis heute Künstlerischer Leiter der Band. Er freut sich, dass ihre Musik 2019 bei vielen sozialen Protesten in Chile zu hören war, »in Erinnerung an das Chile von einst und als Inspiration für die Kämpfe von heute«. Marcela Venegas Santander arbeitet – wenn sie nicht gerade auf einem Quila-Konzert ist – im Kulturzentrum »Ex-Carcel« in Valaparaíso und hofft, dass die Enkelgeneration als »Quilapajuniors« die Bandgeschichte fortschreiben wird. Nach dem gescheiterten Verfassungsreferendum im vergangenen Jahr ist sie in die Gewerkschaft eingetreten: »Ansonsten könnte ich auch gleich nach Island auswandern.« Und Ismael Oddó ist bisher nicht müde geworden, den Poncho überzuwerfen, auch weil es in Chile trotz einer linken Regierung gerade viele Rückschritte gebe: »Wir dürfen uns nicht damit abfinden, der Dystopie länger Beifall zu klatschen. Vielleicht stecken wir bis zu den Knien im Schlamm, aber es gibt Gitarren, Stimmen, einen Chor – das verbindet.«

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