Putsch in Chile: Das Grauen zwischen Flutlichtmasten

Chiles Nationalstadion war nach dem Pinochet-Putsch eine große Folterkammer. Es dauerte, bis an die Verbrechen erinnert wurde

  • Ronny Blaschke, Santiago de Chile
  • Lesedauer: 8 Min.
Ein Junge gedenkt im Inneren des Nationalstadions von Santiago der Opfer des Militärputsches vom 11. September 1973 in Chile.
Ein Junge gedenkt im Inneren des Nationalstadions von Santiago der Opfer des Militärputsches vom 11. September 1973 in Chile.

An einem Samstagmorgen schreiten dreißig Menschen durch die Katakomben des Nationalstadions von Santiago de Chile. Sie sind nicht hier, um ein Fußballspiel zu besuchen, sie möchten sich mit der Geschichte ihres Landes befassen. Die hohen Wände sind voller Risse, von der Decke baumeln Kabel herunter. Neonröhren werfen kaltes Licht in den Gang. Die Gruppe nimmt in einer früheren Umkleidekabine auf Holzbänken Platz. Hier drinnen ist es kühl, obwohl draußen fast dreißig Grad herrschen.

José Méndez Ulloa tritt in die Mitte des Raumes und blickt in die Gesichter der überwiegend jungen Besucher. Ein groß gewachsener Mann mit freundlichen Augen. Unter den hohen Decken hallt seine tiefe Stimme lange nach. Für José Méndez Ulloa ist das Nationalstadion kein Schauplatz des sportlichen Vergnügens, sondern ein Ort des Überlebens. »Das Stadion war das größte Gefangenenlager in Chile«, sagt Ulloa und hebt den rechten Zeigefinger. »In Kabinen wie diesen wurden Menschen brutal verhört. Viele wurden mit Stromschlägen gefoltert. Es gab Hinrichtungen, und etliche Leichen hat man später einfach in den Fluss geworfen.«

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Am 11. September 1973, vor genau fünfzig Jahren, putschte das Militär in Chile gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende. Es herrschte Chaos, es herrschte Willkür. Die Militärjunta witterte überall Gegenwehr, sie steckte Tausende Menschen ins Nationalstadion. José Méndez Ulloa, damals 24 Jahre alt, wurde wie viele andere an seinem Arbeitsplatz verhaftet und ins Stadion verschleppt. »Einige wurden von der Polizei aus dem Schlaf gerissen«, sagt er. »Ohne Kleidung.«

Über den Sitzbänken der Kabine erinnern heute Fotos an Opfer der Diktatur. Ein Teilnehmer der Besuchergruppe hat Tränen in den Augen und nickt zustimmend, er war selbst im Stadion inhaftiert gewesen. »Es ist wichtig, dass wir an diesen Ort zurückkehren und an das Leid erinnern«, sagt José Méndez Ulloa, der regelmäßig Gruppen durch das Stadion begleitet. »So sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Diktatur wiederholt.« Ulloa wird diesen Gedanken noch öfter formulieren. Denn er weiß: In Chile halten viele Menschen diese Erinnerungsarbeit für überflüssig. Die Gesellschaft ist polarisiert – und rechtsgerichtete Strömungen gewinnen an Kraft.

Ein Stadion als Symbol für Unterdrückung? Wie konnte es so weit kommen? Nach der Wahl des Sozialisten Salvador Allende zum Präsidenten 1970 gab es für die Reformen anfangs große Unterstützung. Durch den Wirtschaftsboykott der USA und westeuropäischer Staaten stieg die Inflation und die Arbeitslosigkeit jedoch stark an. Rechtsextreme Gruppen nutzten das Klima aus und forcierten Ausschreitungen und Anschläge.

Nach ihrem Putsch wussten die Militärs die Funktionalität des Nationalstadions zu schätzen. Die Arena galt als das größte überdachte Gebäude des Landes. Auch deshalb waren während des Zweiten Weltkrieges polnische Juden nach ihrer Flucht im Stadion untergekommen, auch deshalb wurden nach einer Überflutung Opfer in den Katakomben untergebracht. Die Putschisten fügten eine Funktion hinzu: das Stadion als Internierungslager.

In den ersten Wochen nach der Machtergreifung wollte die Diktatur die Menschenrechtsverletzungen nicht vertuschen, sondern zur Schau stellen. Soldaten bombardierten den Präsidentenpalast La Moneda, verbrannten Bücher von Oppositionellen, bemalten Wände mit Parolen des neuen Regimes. Auch das Nationalstadion, einer der wichtigsten Repräsentationsbauten Chiles, wurde in die Propaganda eingespannt, sagt die Architektin Valentina Rozas-Krause, die über das Stadion ein Buch geschrieben hat: »Die Militärs wollten die Bevölkerung einschüchtern. Sie wollten die Botschaft verbreiten, dass an diesem symbolischen Ort Oppositionelle zum Schweigen gebracht werden.«

Mehrfach gestattete das Regime Fotografen den Zutritt zum Stadion. Diese Bilder verbreiteten sich weltweit, und sie hängen nun auch in den Katakomben, wo eine Ausstellung an die Brutalität von 1973 erinnert. Die Fotos zeigen, wie bewaffnete Soldaten gebeugte Häftlinge mit gehobenen Händen ins Stadion treiben. Sie zeigen, wie Militärs mit Maschinengewehren patrouillieren. Im Hintergrund auf den Tribünen sieht man Hunderte Gefangene, sie wirken verängstigt und schockiert.

Nach Schätzungen des Internationalen Roten Kreuzes wurden nach dem Staatsstreich zwischen September und November 1973 rund 7000 Menschen im Nationalstadion gefangen gehalten, viele für einige Tage, andere mehr als zwei Monate. Mindestens 41 Menschen verloren im Stadion ihr Leben. Doch dann, im November, wurde das Stadion geräumt, weil sich das Regime durch ein Fußballspiel einen Propaganda-Erfolg erhoffte.

Im Herbst 1973 wollte sich die chilenische Nationalmannschaft für die Weltmeisterschaft 1974 in Deutschland qualifizieren. In der Ausscheidungsrunde traf Chile auf die Sowjetunion. Das Hinspiel endete 0:0. Das Rückspiel sollte am 21. November 1973 in Santiago stattfinden. Die Sowjetunion verlangte eine Spielverlegung.

Eine Delegation der Fifa reiste nach Santiago und besichtigte das Stadion. Einige der letzten Gefangenen werden später berichten, dass sie zu jenem Zeitpunkt unter Waffenandrohung in Kellerräume gebracht wurden. Der Schweizer Helmut Käser, damals Generalsekretär der Fifa, gab das Entscheidungsspiel frei. Seine Begründung: »Wir haben uns nie und können uns auch weiterhin nicht politischen Aktionen anschließen. Denn dann würde bald keine Fußball-Weltmeisterschaft mehr möglich sein.«

Die Sowjetunion boykottierte das Spiel. Und so stand die chilenische Mannschaft vor ein paar Tausend geladenen Gästen allein auf dem Rasen. Nach einem Schuss ins leere Tor pfiff der Schiedsrichter das Spiel ab. Die allermeisten Spieler Chiles verhielten sich ruhig, doch es gibt prominente Ausnahmen, erinnert der Historiker Stephan Ruderer, der an der Universidad Católica in Santiago lehrt: »Als Pinochet der Mannschaft gratulieren will, verweigert ihm der Stürmer Carlos Caszely den Handschlag.« Caszely war populär und sollte für das politisch isolierte Land weiterhin Tore schießen. Doch das Regime verfolgte Mitglieder seiner Familie, unter anderem seine Mutter.

Bei der WM 1974 in Deutschland bestritt die chilenische Mannschaft ihre drei Vorrundenspiele im Olympiastadion von Westberlin. Gleich im ersten Spiel gegen die Auswahl des DFB schmuggelten linke Gruppen Transparente mit Botschaften gegen die Diktatur ins Stadion. Als die Bundeswehr-Kapelle die chilenische Hymne anstimmte, riefen Demonstranten: »Chile sí – Junta no«, Ja zu Chile, Nein zum Regime. Als Paul Breitner für Deutschland den 1:0-Siegtreffer erzielte, jubelten unter den mehr als 80 000 Zuschauern auch etliche Chilenen. Insgesamt suchten nach dem Putsch mehr als 5000 Chilenen Zuflucht in der Bundesrepublik, in der DDR waren es rund 2000.

Damals lebte auch der chilenische Aktivist Jorge Escalante im Exil in Westberlin. Er organisierte Kundgebungen, sprach mit Politikern, sammelte Spenden für seine Freude in Santiago. Aus der Ferne musste er verfolgen, wie das Regime die chilenische Wirtschaft radikal umbaute, mit Privatisierungen und der Streichung von Sozialprogrammen. Mitte der 80er Jahre wuchs jedoch der Widerstand gegen Augusto Pinochet. Wie viele andere kehrte auch Jorge Escalante in seine Heimat zurück. Als Journalist berichtete er über die Rückkehr zur Demokratie und 1989 über die Wahl des Christdemokraten Patricio Aylwin zum Präsidenten.

Jorge Escalante schildert jene Wochen mit Tränen in den Augen. Als Journalist begleitete er 1990 eine große Feier im Nationalstadion von Santiago. Auf dem Spielfeld war eine riesige chilenische Flagge ausgebreitet. Zehntausende Menschen jubelten und sangen. Zudem tanzten Ehefrauen von vermissten Männern einen Folkloretanz. »Dieser öffentliche Akt hat dem Nationalstadion eine neue Funktion verliehen«, sagt Escalante. »Aus dem einstigen Gefangenenlager wurde ein Erinnerungsort.«

In den 90er Jahren war die Demokratie fragil. Augusto Pinochet war noch Senator und Oberbefehlshaber des Heeres. Das Militär machte klar, dass es eine intensive Aufarbeitung der Verbrechen nicht dulden werde. Zeitweilig stand zur Debatte, das Nationalstadion abzureißen und dort ein Einkaufszentrum zu bauen. Erst unter dem sozialistischen Staatspräsidenten Ricardo Lagos wurde das Stadion 2003 unter Denkmalschutz gestellt. Bald darauf wurde in den Katakomben eine Ausstellung eingerichtet.

»Die allermeisten Orte, an denen die Junta gewütet hat, wurden von Menschenrechtsgruppen aufgedeckt«, sagt Jorge Escalante. Er geht auf die 80 zu, doch ans Aufhören will er nicht denken. Escalante sitzt während des Interviews in einem Bürogebäude im Zentrum von Santiago, in der Nähe des Präsidentenpalastes. Auf seinem Tisch sind Akten ausgebreitet. »Tausende Menschen gelten als verschwunden, sie konnten von ihren Angehörigen nicht begraben werden. Wir müssen die Verbrechen weiterhin aufklären.« Forschungen haben ergeben, dass in Chile mehr als 1100 Orte als Gefangenenlager und Folterstätten genutzt wurden. Wohnungen und Keller, Garagen und private Klubs. Mindestens 3100 Menschen sollen während der Diktatur ermordet worden sein.

Nur wenige Gedenkorte in Chile erhalten eine staatliche Förderung. Die Erinnerungskultur fristet ein Nischendasein. Die Regierungen scheinen mit der Bewältigung von aktuellen Problemen ausgelastet zu sein: 2019 demonstrierten Hunderttausende Menschen gegen soziale Ungleichheit. 2021 wird der Linke Gabriel Boric zum Staatspräsidenten gewählt. 150 Volksvertreter erarbeiteten eine Verfassung, die die alte, noch gültige Verfassung aus der Pinochet-Zeit ersetzen soll. Am Ende stand ein Entwurf mit fortschrittlichen Anliegen. Aber in einem Referendum lehnte die Bevölkerung den Entwurf mit klarer Mehrheit ab. Seitdem wähnen sich rechtsextreme Gruppen im Aufwind.

»Viele junge Leute wissen heute gar nicht, was während der Diktatur passiert ist«, sagt der Überlebende José Méndez Ulloa während der Führung durch das Nationalstadion. Die dreißig Besucher nehmen draußen auf der Tribüne auf Holzbänken Platz, umgeben von Zäunen und bröckelndem Putz. Dieser kleine Abschnitt bleibt bei Fußballspielen leer, als Mahnmal für die Opfer der Diktatur. An der Wand ist ein Schriftzug angebracht: »Ein Volk ohne Erinnerung ist ein Volk ohne Zukunft.«

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