»Das System profitiert nicht davon, Frauen zu schützen«

Der Staat versagt darin, Frauen vor Gewalt zu schützen – weil er von ihrer unbezahlten Arbeit profitiert, sagt die Familienrechtsanwältin Asha Hedayati

  • Interview: Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 10 Min.
Im eigenen Zuhause sind Frauen am meisten von Gewalt bedroht.
Im eigenen Zuhause sind Frauen am meisten von Gewalt bedroht.

»Andere erleben sicher viel Schlimmeres.« Sie schreiben, dass Sie diesen Satz in Ihrer Praxis als Familienrechtsanwältin schon oft gehört haben. Woran liegt das?

Betroffenen von häuslicher Gewalt wird in unserer Gesellschaft sehr viel Verantwortung und Schuld dafür zugeschrieben, was ihnen passiert. Und erst im Gespräch realisieren sie, dass es nicht ihre Schuld ist und sie nicht alleine damit sind.

In Deutschland erlebt jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben körperliche oder sexualisierte Gewalt. Diese Zahlen bleiben sehr abstrakt. Können Sie einen typischen Fall nachzeichnen?

Den einen klassischen Fall gibt es nicht. Es gibt die Fälle, da kommen die Betroffenen über die Frauenberatungsstellen oder über die Frauenhäuser. Das heißt, die Trennung ist quasi schon vollzogen und sie müssen den Umgang der Kinder mit dem gewalttätigen Ex-Partner regeln. Dann habe ich Betroffene – und das sind sehr heikle Fälle –, die sind immer noch in der Partnerschaft und kommen quasi heimlich. Da geht es um die Frage, schafft sie es, sich zu trennen und wenn ja, wie kann sie vor weiterer Gewalt geschützt werden. Dann gibt es die Fälle, die zunächst nach einem ganz klassischen Scheidungsverfahren aussehen. Und im Gespräch kommt dann heraus, was in der Ehe alles vorgefallen ist, wie viel Leid den Mandantinnen widerfahren ist und wie sie da komplett alleine durchgegangen sind.

Ihr Buch heißt »Die stille Gewalt«. Warum?

Damit ist nicht die Gewalt des Partners gemeint, die ist überhaupt nicht still. Was still ist, sind diese unsichtbaren Normen, Mythen und patriarchalen Strukturen, die sich darin manifestieren, dass die Betroffenen den Weg aus der Gewalt komplett alleingelassen von den staatlichen Institutionen gehen müssen. Oder diese Gewalt – oft nach einer Trennung – sogar befeuern.

Was meinen Sie damit?

Zum Beispiel Täter-Opfer-Umkehr durch Polizist*innen. Ganz klassisch sind Fälle, in denen die Betroffene sich an die Polizei wendet und sagt: »Ich habe mich getrennt und mein Ex-Partner stalkt mich, er sucht ständig Kontakt zu mir. Und ich möchte nicht, dass er vor meiner Wohnung auftaucht.« Und die Polizei sagt ihr dann: »Er sucht das Gespräch mit Ihnen, vielleicht will er Sie zurückgewinnen, und Sie müssen sich einfach nur noch mal mit ihm unterhalten.« Das ist staatliches Gaslighten: Sie hat die Wahrnehmung, er bedroht mich. Und die Polizei sagt: »Ihre Wahrnehmung ist falsch, er will nur mit Ihnen reden.«

Interview
Asha Hedayati

Asha Hedayati arbeitet seit 10 Jahren als Rechtsanwältin im Bereich des Familienrechts und vertritt dabei schwerpunktmäßig gewaltbetroffene Frauen in Trennungs-, Scheidungs-, und Gewaltschutzverfahren. Daneben ist sie Gastdozentin für Familienrecht und Kinder- und Jugendhilferecht an der Alice-Salomon-Hochschule. Ihr Buch »Die stille Gewalt. Wie der Staat Frauen alleinlässt« ist bei Rowohlt erschienen.

Die Polizei ist eine Institution, die eigentlich erst greift, wenn etwas passiert ist. Im Zusammenhang mit der Letzten Generation haben Politiker*innen Präventivhaft eingesetzt.

Ja. Es ist einfach interessant, zu sehen, wann der Staat plötzlich durchgreift. Und gleichzeitig ist es absolut nicht das, was ich fordere. Denn oft ist es so, dass häusliche Gewalt immer dann sehr ernst genommen wird, wenn der Täter einen migrantischen Hintergrund hat. Und andersherum weniger, wenn die Betroffene nicht weiß ist, aber der Täter weiß und deutsch. Eine Ausweitung der polizeilichen Befugnis würde diese rassistischen Strukturen aus meiner Sicht noch befördern. Für mich ist es völlig klar, dass die Polizei ein Teil des Problems ist als patriarchalisch-chauvinistische Institution. Trotzdem kann ich in der Welt, in der wir leben, nicht fordern, dass die Polizei abgeschafft wird, weil wir sie immer noch brauchen für den Schutz der Betroffenen. Diesen Widerspruch müssen wir zurzeit noch aushalten. Damit es gar nicht erst zu Gewalt kommt, müssen wir den Schwerpunkt auf präventive Maßnahmen legen.

Sie schreiben, eines der effektivsten Mittel zur Gewaltprävention wäre die gleichrangige Verteilung von Care-Arbeit. Können Sie das erklären?

Um Gewalt zu verhindern, brauchen wir eine ganz klare Gleichstellung von Frauen. Und die erreichen wir beispielsweise, wenn wir für eine gute Bezahlung von Care-Arbeit sorgen und von klassisch weiblich typisierten Jobs, wie Altenpflege, Krankenpflege, Reinigungsarbeit.

Meinen Sie damit auch die Fürsorgearbeit zu Hause?

Ja! Unbezahlte Care-Arbeit ist ein ganz großes Problem. Mütter gehen immer noch länger in Elternzeit und betreuen die Kinder zu Hause. Und auch danach arbeiten viele Frauen in Teilzeit und verdienen weniger Geld. Eine Person, die wirtschaftlich abhängig ist von der anderen, wird es viel schwerer haben, sich für eine Trennung zu entscheiden. Es tauchen dann viele Fragen auf: Wie finde ich überhaupt bezahlbaren Wohnraum? Wie werde ich meine Kinder ernähren können? Die Frau, die mir gegenüber sitzt, weiß, wenn sie sich für diese Trennung entscheidet, dann wird sie sich für ein Leben in Armut entscheiden. Und zwar nicht nur für sich, sondern auch für ihre Kinder. Dass diese Entscheidung so individualisiert wird, das ist wirtschaftliche Gewalt vom Staat. Das kapitalistische System profitiert von der Arbeit dieser Frauen und es profitiert gleichzeitig davon, dass sie in (gewaltvollen) Beziehungen verbleiben, wo sie ihren Männern den Rücken freihalten. Das System würde komplett kollabieren, wenn diese Frauen die Möglichkeit hätten zu sagen: Ciao, mach mal dein Leben selber.

Wer sich als Paar aktuell für eine gleichberechtigte Sorge entscheidet, muss oft auf Geld verzichten. Wie kommen wir aus diesen Strukturen raus?

Ja, das Problem ist nicht individuell lösbar. Wir müssen überlegen, welche Strukturen geschaffen werden müssen, damit Anreize dafür entstehen, dass beispielsweise beide Elternteile in Teilzeit arbeiten. Dafür wäre sicherlich vorteilhaft, wenn wir von der 40-Stunden-Woche wegkommen. Und wenn wir an Arbeitsplätzen ein Klima gibt, das es Männern leichter ermöglicht zu sagen, ich bin dann mal weg, ich gehe ein Jahr in Elternzeit oder ich gehe jetzt in Teilzeit. Das ist nicht nur eine finanzielle Problematik, sondern da gibt es ganz viel Druck auf Männer.

Eine Geschichte in Ihrem Buch hat mich besonders erschüttert. Da erzählen Sie von einer rassifizierten Frau, die von ihrem Partner Gewalt erfahren hat und dann ihre Kinder an eine Pflegefamilie verliert.

Ja, das war ein besonders schlimmer Fall für mich, weil klar wurde, dass mit einer weißen deutschen Frau so nicht umgegangen worden wäre. Die Betroffene war mit ihren Kindern und ihrem damaligen Partner aus ihrem Herkunftsland geflohen. Der Partner war sehr gewaltvoll und bei jedem Polizeieinsatz gab es eine Kinderschutzmeldung beim Jugendamt. Das Jugendamt hat ihr dann gesagt, sie muss sich trennen, das ist eine Kindeswohlgefährdung, wenn Gewalt vor den Kindern stattfindet. Was an sich auch korrekt ist. Dann wurden die Kinder in Obhut genommen und die Mutter hat sich getrennt. Und hier beginnt es dann anders zu laufen: In der Regel ist es so, dass die Kinder nach der Trennung vom gewalttätigen Partner zur Mutter zurückgeführt werden. Doch in diesem Fall hat das Jugendamt das nicht getan und die Betroffene auch nicht über ihre Rechte aufgeklärt. Als sie sich dann an mich gewendet hat, war es schon zu spät. Bei so kleinen Kindern werden über die Zeit Fakten geschaffen. Das heißt, es wäre eine erneute Kindeswohlgefährdung gewesen, die Kinder wieder aus ihrem gewohnten Umfeld herauszunehmen. Die Kinder blieben also in den Pflegefamilien, getrennt von ihrer Mutter und getrennt voneinander. Diese Frau wurde vom Jugendamt falsch beraten; ihr ist Unrecht widerfahren.

In anderen Fällen folgen nach der Trennung Sorgerechts- oder Umgangsverfahren. Die UN-Sonderberichterstatterin hat im Juni die Praxis an deutschen Familiengerichten angemahnt, wo die Gewalttätigkeit gegenüber der Mutter in Kindschaftsverfahren oft nicht berücksichtigt wird.

Da geht es um den problematischen Begriff der Bindungstoleranz. Wenn die Mutter sich nicht vom gewalttätigen Partner trennt, wird ihr eine Kindeswohlgefährdung vorgeworfen. Und das ist auch richtig. Das heißt, sie muss den Schritt der Trennung schaffen. Aber wenn sie dann mit den Kindern geht, wird sie vom Jugendamt und Familiengericht aufgefordert, den Kontakt zwischen den Kindern und ihrem Vater, dem gewalttätigen Ex-Partner, sofort wieder zuzulassen. Und wenn sie das nicht will, wird der Mutter auch das als Kindeswohlgefährdung vorgeworfen, ihr wird dann unterstellt, sie sei nicht bindungstolerant und dann vielleicht auch nicht erziehungsfähig. Das geht so weit, dass ihr gesagt wird: Wir müssen prüfen, ob Sie dann überhaupt das Sorgerecht ausüben können oder ob das Kind den Lebensmittelpunkt zum Kindesvater wechseln muss.

Wie oft passiert das?

Das ist in erster Linie ein Druckmittel. Aus Angst, dass es zu dieser Entscheidung kommen könnte, gehen die Frauen einen Vergleich ein und lassen den Umgang zu.

Und ist das eine Gefahr für die Frau?

Ja, das ist auf so vielen Ebenen eine Gefahr. Zunächst einmal für ihre emotionale Stabilität. Also wir reden ja auch von Menschen. Sie haben manchmal über Jahrzehnte Gewalt erfahren. Und dann haben sie diesen Schritt gewagt und sind mit viel Kraft und Mut aus dieser Shit-Show rausgekommen und erhoffen sich, dass ihnen geholfen wird. Und dann sitzen sie vor diesem Familiengericht, von dem sie sich ein Stück weit auch Gerechtigkeit wünschen, und merken dann, dass das alles keinen Wert hat oder dass sie über dieses Gericht sogar noch einmal Gewalt erfahren. Weil sie nicht ernst genommen werden, weil die Gewalt nicht gesehen wird, weil sie als Betroffene immer noch nicht geschützt werden. Das ist die eine Ebene. Die andere Ebene ist, wenn sie den Umgang unbegleitet mit dem Kindesvater ausüben, dass es zu diesen Übergaben kommt. Und dort droht jedes Mal eine Machtdemonstration.

Was meinen Sie damit?

Wenn man in so einer Partnerschafts-Gewaltdynamik ist, dann reicht manchmal ein Blick. Es reicht die Möglichkeit, dass es wieder zur Gewalt kommen kann, um die Betroffene zu destabilisieren. Und am Ende ist es auch jedes Mal eine Form von Demütigung. Und ganz konkret kommt es zu Beleidigungen, zu Bedrohungen und zu körperlicher Gewalt. Die Trennungssituation insgesamt ist ein Hochrisikofaktor für Femizide. Das heißt, wir schützen die Betroffenen nicht davor, dass sie möglicherweise von dem gewalttätigen Ex getötet werden. Und für die Kinder ist es natürlich enorm destabilisierend, wenn sie diese Schwingungen mitbekommen.

Das ist ein Loyalitätskonflikt.

Ja, sie wollen, dass es der Mutter gutgeht, sie wollen die Mutter teilweise auch schützen. Ich war bei einer Kindesanhörung, da hat die Richterin das Kind gefragt: Was möchtest du später mal werden? Und dann sagt das Kind: Ich wäre gerne Superman. Und dann fragt die Richterin: Wow, wie cool. Und was würdest du dann machen? Und dann sagt das Kind: Ich würde meine Mutter schützen. Ich würde meine Mutter retten. Das war ein vierjähriges Kind. Und Familiengerichte, Polizei und Jugendämter hätten die Möglichkeiten gehabt, dieses vierjährige Kind vor diesen Erfahrungen zu schützen. Und es ist nicht nur dieses eine vierjährige Kind, es sind so viele. Die Kinder lernen auch, dass die staatlichen Institutionen der Gewalt des Vaters gegenüber der Mutter keine Grenzen setzen, dass er nicht an sich arbeiten muss und keine Verantwortung für sein Verhalten übernehmen muss. Was macht das mit einem Menschen, der so was mit ansehen muss?

Woher kommt diese Überzeugung, dass der Kontakt auch zu einem gewalttätigen Vater im Sinne des Kindeswohls ist?

Weil es immer noch diesem heteronormativen Modell entspricht, dass eine Familie aus Vater, Mutter, Kind besteht und es das Beste für das Kind ist, beide Elternteile immer im Leben zu haben. Außerdem wird diese Thematik von Väterrechtlern enorm gepusht. Man kann das so schön unter diesem progressiven Deckmantel verkaufen und daraus eine Gleichstellungsdebatte machen: Ihr wollt doch, dass wir mehr machen und jetzt kommen wir und wollen uns kümmern. Aber dabei wird übersehen, dass diese Väter sich in den meisten Fällen jahrelang überhaupt nicht gekümmert haben. Dieses progressive Thema wird dann ein Werkzeug, um die Frau weiter zu unterdrücken.

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