Erdbeben in Marokko: »Die Menschen sind extrem verängstigt«

Katastrophenmanagerin Katharina Ebel über die Lage nach dem Erdbeben in Marokko

  • Philipp Hedemann
  • Lesedauer: 5 Min.

Frau Ebel, wie haben Sie das Erdbeben erlebt, das bislang mindestens 2862 Tote forderte?

Ich habe in Marokko Urlaub gemacht. Ich war gerade in einem alten, einfachen Fischerhaus direkt am Strand südlich von Agadir ins Bett gegangen, als plötzlich alle Hunde anfingen, wie verrückt zu bellen. Wenige Sekunden später schwankte das ganze Haus. Ich hatte zuvor noch nie ein Erdbeben erlebt und wusste zunächst nicht, wie mir geschieht. Als ich begriff, was passierte, bin ich – wie alle anderen Leuten – aus dem Haus gerannt. Alle waren sehr verunsichert.

Was haben Sie dann gemacht?

Ich habe auf das Meer geschaut. Ich habe geguckt, ob das Wasser sich zurückzieht. Ich hatte Angst vor einem Tsunami. Aber das Meer blieb ruhig. Ich habe meiner Familie noch geschrieben, dass es mir gut geht. Als mein Herzrasen nachließ, ich am Gebäude keine Risse entdecken konnte und ich keine Nachbeben spürte, habe ich mich wieder schlafen gelegt.

Und was machen Sie jetzt?

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Ich habe meinen Urlaub natürlich sofort abgebrochen und bin in das SOS-Kinderdorf bei Marrakesch gefahren. Von hier aus unterstütze ich meine lokalen Kolleginnen und Kollegen dabei, die am schwersten vom Beben Betroffenen möglichst schnell und gut mit Nothilfe zu erreichen.

Wann läuft die Hilfe an?

Sofort! Die SOS-Kinderdörfer weltweit stellen 100 000 Euro aus einem Nothilfefonds zur Verfügung. Damit werden unter anderem Nahrungsmittel, Zelte, Hygiene-Artikel, Medikamente, Decken, Kleidung und finanzielle Unterstützung für die Erdbebenopfer finanziert. Auch die psychologische Betreuung von traumatisierten Kindern und deren Eltern soll so ermöglicht werden. Ich war wenige Tage vor dem Erdbeben selbst noch im am schlimmsten betroffenen Gebiet wandern. Viele Menschen, die dort leben, sind sehr arm, einige sind Nomaden, die medizinische Versorgung war schon vor dem Beben prekär.

Wie wird die Hilfe koordiniert?

Viele Straßen im Gebirge sind nach wie vor nicht passierbar, zudem hat das Militär viele Gebiete abgeriegelt, um die Hilfe zu koordinieren und um medizinische Erstversorgung zu leisten. Aber unsere lokalen Mitarbeitenden konnten schon in einige der am schlimmsten betroffenen Gebiete vordringen und sich einen ersten Eindruck verschaffen. Sie wissen, was jetzt am dringendsten benötigt wird. Wir haben bereits begonnen, die Hilfsgüter zu beschaffen und Lastwagen zu beladen. Läuft alles nach Plan, können bereits ab Mittwoch die ersten Hilfsgüter verteilt werden.

Was berichten Ihre Kolleginnen und Kollegen aus dem Erdbebengebiet?

Sie haben viele komplett eingestürzte Gebäude gesehen und mit verzweifelten Menschen gesprochen. Da es in der Gegend kaum schweres Gerät gibt und viele Straßen unpassierbar sind, gestaltet die Bergung der Verschütteten sich als sehr schwierig. Die Menschen sind extrem verängstigt. Selbst die, die noch Häuser haben, schlafen aus Angst vor Nachbeben oft im Freien.

Gibt es noch Hoffnung, Verschüttete lebendig zu finden?

Die Hoffnung schwindet mit jeder Stunde. In den betroffenen Gebieten herrschen tagsüber Temperaturen von bis zu 35 Grad und nachts wird es kühl. Ich glaube kaum, dass man unter diesen Umständen drei Tage ohne Wasser unter Trümmern überleben kann. Da die meisten Menschen schon schliefen, als die Erde bebte und deshalb unter den Trümmern ihrer einstürzenden Häuser begraben wurden, gehe ich leider davon aus, dass die Zahl der bestätigten Todesopfer in den nächsten Tagen noch stark steigen wird.

Wird SOS-Kinderdörfer weltweit die Erdbebenopfer auch langfristig unterstützen?

Wir haben langjährige Erfahrung und Expertise im Wiederaufbau in von Erdbeben betroffenen Gebieten. Wir werden uns unter anderem um die Instandsetzung oder den Neubau von zerstörten Schulen und bis dahin um die Beschulung der verängstigten und obdachlosen Schülerinnen und Schüler kümmern. Außerdem haben wir viel Erfahrung in der Bewältigung von Traumata und werden Kinder und Familien mit psychosozialen Angeboten bei der Verarbeitung der schrecklichen Erlebnisse unterstützen.

Beim Beben haben viele Kinder ihre Eltern verloren. Wird SOS in Marokko ein weiteres Kinderdorf bauen müssen?

Traditionell werden verwaiste Kinder in Marokko von Verwandten aufgenommen. Diese Familien werden wir finanziell, aber auch mit psychotherapeutischer Hilfe unterstützen. Es ist gut, wenn Kinder nach traumatischen Erlebnissen möglichst viel Kontinuität haben. Die Unterbringung in einem Kinderdorf würde nur geschehen, wenn niemand das Kind zu Hause aufnehmen könnte. Deshalb glaube ich nicht, dass wir ein neues Kinderdorf bauen müssen.

Viele Länder, darunter Deutschland, haben ihre Unterstützung angeboten, doch Marokko will zunächst nur von Spanien, Katar, Großbritannien und den Vereinigten Arabischen Emiraten Hilfe annehmen. Darf SOS-Kinderdörfer weltweit überhaupt helfen?

Die Regierung und das Militär sind relativ gut aufgestellt. Auch um die Hilfe gut koordinieren zu können, wollen sie offenbar die Zahl der beteiligten Akteure begrenzen. SOS-Kinderdörfer weltweit kann und darf jetzt und langfristig trotzdem einen wichtigen Beitrag bei Soforthilfe und Wiederaufbau leisten. Wir sind seit 43 Jahren mit derzeit 162 Mitarbeitenden im Land. Wir sprechen die Sprache, kennen die lokalen Begebenheiten und aktuellen Bedarfe und sind in Marokko als lokale Hilfsorganisation registriert. Aber um vor Ort helfen zu können, sind wir dringend auf Spenden aus aller Welt angewiesen.

Interview
Katharina Ebel arbeitet für SOS-Kinderdörfer weltweit. © SOS-Kin...

Katharina Ebel (44) studierte Katastrophen- und Sicherheits-Management und leistete unter anderem in Afghanistan, Syrien und im Irak Humanitäre Hilfe. Für SOS-Kinderdörfer weltweit arbeitet sie jetzt als Expertin für Programmentwicklung und humanitäre Hilfe. 

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