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Modellprojekt Graefekiez in Kreuzberg: Parken versus pflanzen
Im Graefekiez schreitet der Umbau Kreuzbergs voran. Anwohner*innen zeigen sich skeptisch
»Ein Bullerbü für die Reichen, die eh schon alle anderen weggentrifiziert haben« – ein Anwohner zeigt sich alles andere als glücklich über die Maßnahmen des Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg im Graefekiez. Er sei hier geboren, wohne hier seit 70 Jahren, habe selbst gar kein Auto und finde das Projekt trotzdem »unmöglich«. »Für die Reichen wird hier alles schön gemacht, während ringsum die Drogensüchtigen liegen.«
Es sieht tatsächlich fast idyllisch aus in der Graefestraße: Auf dem Gehweg ragen große und kleine Pflanzen aus den mit Holz umrandeten Beeten hervor. Am Straßenrand befinden sich größere Flächen voll Erde, denen ein ähnliches Los bestimmt ist. Andere ehemalige Parkflächen wurden zu Aufenthaltsorten mit neuen Holztischen und -stühlen umfunktioniert. Noch wird die Idylle von zahlreichen Bauzäunen gestört, aber im Oktober sollen die Baumaßnahmen abgeschlossen sein. Man kann sich aber schon jetzt das entspannte Nachbarschaftsleben vor den Haustüren vorstellen, wo der Vorrang des Autoverkehrs auf der Straße ein Ende haben soll.
Entsprechend stolz präsentierte Verkehrsstadträtin Annika Gerold (Grüne) am Mittwochvormittag die Arbeit ihres Bezirks. Der Umbau des Graefekiezes, der im Oktober abgeschlossen werden soll, finde unter verschiedenen Gesichtspunkten statt: Klimaanpassung, Verkehrssicherheit, Mobilitätswende und Nutzung des öffentlichen Raums durch die Nachbarschaft.
Die Entsiegelung von 400 Quadratmetern Straßenfläche ist vor allem eine Klimaanpassungsmaßnahme. »Wir brauchen bei Starkregen die Versickerungsflächen. Vor allem im innerstädtischen Bereich«, sagt Gerold. Gleichzeitig ist es ein Nachbarschaftsprojekt: Die Anwohner*innen beteiligen sich an der Bepflanzung der ehemaligen Parkplätze, der Bezirk stellt dafür 4000 Euro zur Verfügung.
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Anwohner Julian hat sich schon zur Bepflanzung der Fläche direkt vor seinem Haus eingetragen, obwohl auch er die verlorenen Parkplätze vermisst. »Ich bin zwar skeptisch gegenüber den Maßnahmen, aber werde mich trotzdem beteiligen«, sagt er. Die Anwohner*innen seien vor dem Umbau der Straße nicht gefragt worden, er brauche sein Auto beruflich und müsse nun viel länger nach einem Parkplatz suchen, und er befürchtet, dass nun die Mieten steigen werden. »Aber man kann das ja jetzt ein Jahr lang ausprobieren und danach schauen, ob es für die Nachbarschaft funktioniert oder ob es rückgebaut werden muss«, sagt er.
Das Pilotprojekt in Kreuzberg wird wissenschaftlich begleitet und evaluiert, sagt auch Stadträtin Gerold. Dann werde entschieden, ob die Umbaumaßnahmen, die sich vor allem auf einen Abschnitt in der Graefestraße und einen Abschnitt in der kreuzenden Böckhstraße beschränken, bleiben. Der Kritik der parkplatzsuchenden Anwohner*innen hält sie entgegen, dass es keinen Anspruch auf Parkplätze vor der eigenen Haustür gebe. »Wir sind aber gerade in der Ausschreibung für eine Parkraumbewirtschaftung für vier Kieze, darunter auch der Graefekiez«, sagt sie. Dadurch könnte sich die Parksituation für die Anwohner*innen entspannen.
Für die Verdrängung der Autos aus den Straßenabschnitten spricht auch, dass es sich um verkehrsberuhigte Zonen handelt – hier sollten sich also sowieso Fußgänger*innen, vor allem Kinder, gleichberechtigt auf der Straße bewegen können. Durch die Entfernung von Parkplätzen würden die Sichtverhältnisse und dadurch die Verkehrssicherheit deutlich verbessert, sagt ein Mitarbeiter des Bezirks. Er zeigt dabei auf eines von vier »Kita-Parklets«, wo ein kleiner Aufenthaltsraum für die Kitakinder von nebenan gebaut wurde, damit auch diese einen sicheren Raum in ihrer Straße haben.
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