Obdachlosigkeit in Berlin: Das Elend überwinden

Am Montag findet die siebte Mahnwache gegen Obdachlosigkeit und Zwangsräumungen statt. Grüne fordern mehr 24/7-Unterkünfte

Wohnen ist ein Menschenrecht, und in Berlin hat jede Person Anspruch auf einen Schlafplatz in einer Unterkunft. Dennoch müssen Tausende auf der Straße leben.
Wohnen ist ein Menschenrecht, und in Berlin hat jede Person Anspruch auf einen Schlafplatz in einer Unterkunft. Dennoch müssen Tausende auf der Straße leben.

»Wir fordern Sichtbarkeit von obdachlosen Menschen und setzen uns gegen die Vertreibung aus dem öffentlichen Raum ein«, sagt Uwe Mehrtens zu »nd«. Mehrtens ist Teil der Union für Obdachlosenrechte (Ufo) Berlin und war selbst wohnungslos, in Hamburg und Berlin. Heute setzt er sich für die Rechte von Menschen ein, die in Berlin auf der Straße und in Wohnungslosenunterkünften leben müssen. Seine Gruppe Ufo wirkt an der jährlichen Mahnwache gegen Obdachlosigkeit und Zwangsräumungen mit, die am Montag zum siebten Mal vor dem Roten Rathaus in Berlin stattfinden wird.

»Wir werden mit vielen Leuten vor Ort sein und haben ganz viel vor«, sagt Mehrtens. Aktuell beschäftigt sich Ufo vor allem mit dem Thema Vertreibung – etwa im Zusammenhang mit der Überarbeitung eines Leitfadens des Bezirksamts Neukölln, in dem festgehalten ist, dass obdachlose Menschen von bestimmten Orten, etwa Spielplätzen, einfacher vertrieben werden können. Auch die sogenannte Reinigungsstreife der U-Bahnlinie 8, ein Pilotprojekt der BVG, das im vergangenen Jahr startete, kritisiert Mehrtens: »Obdachlose werden nicht nur aus den U-Bahnen gezerrt und gedrängt, sondern auch in den Bahnhöfen sollen sie nicht mehr sichtbar sein.«

Die U8-Reinigungsstreife kritisieren auch Nicole Lindner und Steffen Doebert, die Teil des Bündnisses sind, das die jährliche Mahnwache gegen Obdachlosigkeit organisiert. »Die Reinigungsstreife ist einfach abartig und ekelhaft. Menschen sind kein Müll«, sagt Lindner zu »nd«.

Lindner und Doebert wünschen sich, dass zur Mahnwache auch Berliner Politiker*innen kommen. Aber nur zum Zuhören, sagt Doebert. »Reden dürfen sie nicht.« Denn bei der Mahnwache gehe es darum, den Menschen den Raum zu geben, die Erfahrungen mit Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit gemacht haben. »Wir haben ein offenes Mikrofon und wollen die Leute vorziehen, die von Selbstvertretungen sind, die kriegen ja sonst kaum Raum«, so Doebert.

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Der Ort der Mahnwache ist bewusst gewählt. »Wir stehen vor dem Roten Rathaus, weil da die Regierenden sitzen, die was machen könnten«, sagt Lindner. Dafür müssten sie aber aus ihren Büros herauskommen, sich die Erfahrungen von obdachlosen Menschen anhören und mit ihnen ins Gespräch kommen. Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) habe die Einladung allerdings bereits abgelehnt, sagt Lindner.

Von den Politiker*innen fordern die beiden effektive Maßnahmen gegen Obdachlosigkeit, um das vom Senat selbst gesetzte Ziel, diese bis 2030 zu überwinden, auch zu erreichen. Eine der Forderungen: Zwangsräumungen in Berlin allgemein nicht zuzulassen. »Wie kann denn Obdachlosigkeit beendet werden, wenn immer noch zwangsgeräumt wird und so immer mehr Obdachlose produziert werden?«, fragt Doebert. Um das Recht auf Wohnen durchzusetzen, dürften jene, die eine Wohnung haben, diese nicht verlieren. Solange das aber passiere, »ist das eine Farce mit 2030«, sagt Lindner.

Ein weiterer Ansatz, um Obdachlosigkeit zu bekämpfen, könne eine Entkriminalisierung von Hausbesetzungen sein. »Besetzungen sollten als Amtshilfe anerkannt werden, gerade bei Leerstand«, sagt Lindner.

Das Ziel, Obdachlosigkeit bis 2030 zu beenden, verfolgt nach eigenen Angaben auch die Senatssozialverwaltung unter Senatorin Cansel Kiziltepe (SPD). Im Koalitionsvertrag sei »vereinbart, die Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis 2030 zu beenden und den betroffenen Menschen eine menschenwürdige Perspektive zu sichern«, teilt die Sozialverwaltung auf nd-Anfrage mit.

Wege dahin seien unter anderem der Ausbau von Housing-First-Projekten, die obdachlosen Menschen zuerst niedrigschwellig eine Wohnung vermitteln, um dann die bürokratische Eingliederung in weitere Hilfesysteme zu klären. Außerdem würden Notunterkünfte für Wohnungslose ausgebaut und die Bezirke bei der Prävention von Wohnungs- und Obdachlosigkeit unterstützt.

»Wie kann denn Obdachlosigkeit beendet werden, wenn immer noch zwangsgeräumt wird?«

Steffen Doebert
Bündnis Gemeinsam gegen Obdachlosigkeit und Zwangsräumungen

»Größtes Hindernis bei der Beendigung der Wohnungslosigkeit ist der weiterhin eklatante Mangel an bezahlbarem Wohnraum«, so die Sozialverwaltung. Außerdem seien viele »Stellschrauben« bundesrechtlich geregelt, sodass der Berliner Senat die »politischen Schwerpunktsetzungen infolge der Koalitions- und Regierungsbildung auf Bundesebene« abwarten müsse.

Die Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus hält ebenfalls daran fest, Obdachlosigkeit in Berlin bis 2030 beenden zu können. In einem kürzlich veröffentlichten Zehn-Punkte-Programm werden Maßnahmen gegen die Wohnungsnot ausgeklammert. Diese zu beenden sei zwar die elementare Herausforderung, werde Berlin aber »noch sehr viele Jahre« beschäftigten, wie man realistischerweise feststellen müsse, sagt Fraktionsvorsitzende Bettina Jarasch. »Wir wollen und müssen es zumindest schaffen, die Verelendung auf der Straße zu beenden, das heißt, die Obdachlosigkeit zu überwinden.« Das sei mit dem entsprechenden politischen Willen durchaus bis 2030 möglich.

Mit den bisherigen Anstrengungen des Senats ist Jarasch nicht zufrieden. Die Grünen fordern etwa, den Zugang zu Housing First zu erleichtern und den Anspruch aller Menschen – unabhängig von sonstigen Leistungsansprüchen – auf eine Unterbringung in Wohnungslosenunterkünften durchzusetzen. Auch will die Fraktion die Kältehilfe als niedrigschwelliges Schlafplatz-Angebot ganzjährig anbieten und zu sogenannten 24/7-Unterkünften auszubauen.

Bei der Vorstellung des Zehn-Punkte-Plans ist Elke Löbel zu Gast. Sie leitet die einzige Berliner 24/7-Notunterkunft für Frauen in Kreuzberg und zeigt an diesem konkreten Beispiel auf, wie wichtig diese Art der Unterbringung ist, die es wohnungslosen Menschen ermöglicht, sich täglich rund um die Uhr in der Unterkunft aufzuhalten. »Man muss erst einmal ankommen und sich ausruhen können, um eine Bestandsaufnahme machen zu können und zu schauen, wie es weitergeht.«

Ihrer Erfahrung nach haben »nahezu alle Frauen«, die in der Unterkunft versorgt werden, eine psychische Erkrankung – entweder führte diese zur Obdachlosigkeit, oder andersherum. Sie berichtet von einer jungen Frau, die schon in ihrer Kindheit und Jugend im Hilfesystem war, dann in eine Wohngemeinschaft ziehen konnte. Während der Corona-Pandemie erkrankte die Frau psychisch und verlor in der Folge ihr Zimmer in der WG. »Wir konnten ihr durch intensive soziale und psychologische Betreuung ein Platz im betreuten Wohnen vermitteln«, sagt Löbel. Eine andere Frau sei mit 50 Jahren obdachlos geworden, weil sie in ihrer Beziehung Gewalt erfahren und sich schließlich getrennt habe. Auch hier sei eine intensive Betreuung notwendig gewesen, um sie in eigenen Wohnraum vermitteln zu können.

Ulrike Kostka, Vorstandsvorsitzende der Caritas Berlin, befürchtet, dass sich angesichts der Sparmaßnahmen des schwarz-roten Senats die Lage für obdachlose Menschen in den kommenden Jahren verschlimmert. Vor allem etwaige Einsparungen im Integrierten Gesundheitsprogramm müssten abgewendet werden, denn dieses komme mit vielen niedrigschwelligen Angeboten vor allem sucht- oder psychisch kranken Menschen zugute. Durch Kürzungen würde »das ganze Hilfenetz gefährdet«. Angebote, die als Projekte finanziert und dadurch stets von Kürzungen bedroht sind, seien trotzdem Teil der Grundversorgung in Berlin.

Auf Anfrage von »nd« teilt die Senatsgesundheitsverwaltung mit, dass weder die Sparmaßnahmen für das laufende Haushaltsjahr 2025 noch für den Doppelhaushalt 2026/27 bislang final entschieden worden seien, weshalb man über etwaige Kürzungen keine Auskunft erteilen könne.

Nicole Lindner und Steffen Doebert vom Bündnis gegen Obdachlosigkeit und Zwangsräumungen kritisieren Kürzungen im Berliner Hilfesystem scharf. »Hilfeleistungen sind unkürzbar. Man kann nicht bei den Hilfebedürftigen sparen, das geht gar nicht«, sagt Doebert.

Die Mahnwache vor dem Roten Rathaus wird von vielen Gruppen und Künstler*innen unterstützt. Am Montag geht es um 16 Uhr los, die Aktivist*innen wollen bis zum Dienstagmittag dort bleiben und in Zelten übernachten. Neben zahlreichen Redebeiträgen kann man sich beim Stand des Straßensozialarbeitsvereins Gangway selbst im Siebdruck versuchen. Es wird eine Ausstellung geben, eine Kunstaktion und eine Gedenkaktion, mit der an die auf der Straße verstorbenen Menschen erinnert wird. Verschiedene Musiker*innen begleiten die Mahnwache, darunter die Bands »Incredible Herrengedeck« und »Ton, Steine, Scherben«. »Wir hoffen, dass wir über die Musik auch Menschen erreichen, die sich noch nicht so viel mit dem Thema Obdachlosigkeit beschäftigt haben«, sagt Lindner.

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