Mieterkampf in Wedding: Vorkauf, bevor es bröckelt

Hausgemeinschaft in Wedding versucht, durch Vorkaufsrecht den Verkauf an einen Investor zu verhindern

  • Felix Schlosser
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Mieter Christoph Mayer, Manfred Hübner und Klaus Lindner (v.l.) fordern den Bezirk Mitte auf, ihr Wohnhaus vor dem Investor zu retten.
Die Mieter Christoph Mayer, Manfred Hübner und Klaus Lindner (v.l.) fordern den Bezirk Mitte auf, ihr Wohnhaus vor dem Investor zu retten.

»Wir haben weder Klingeln, noch ein Klingelschild«, berichtet Mieter Christoph Mayer, 38 Jahre alt und Mieter des Wohnhauses Seestraße 110, auf einer Pressekonferenz. Dem alten, vor über 100 Jahren erbauten Haus sieht man an, dass sich dort jahrzehntelang nichts getan hat. Die Fensterrahmen sind zu großen Teilen alt und morsch. Der Putz der Fassade bröckelt. Mieter berichten von Ratten und anderen Nagetieren im Innenhof. Der derzeitige Eigentümer Jörg W. habe an dem Haus jahrelang so gut wie nichts gemacht, sagen sie.

Das Haus mit 27 Mietwohnungen im Stadtteil Wedding, das in einem sogenannten Milieuschutzgebiet liegt, soll am 10. Oktober an die Schweizer Immobilienfirma Bluerock Group verkauft werden. Auf einer Pressekonferenz am Mittwoch fordert die Hausgemeinschaft der Seestraße 110 den Bezirk Mitte auf, das Vorkaufsrecht auszuüben.

Dieses besagt, dass im Fall von Wohnhäusern, die von privaten Käufern gekauft werden könnten, der Bezirk beziehungsweise landeseigene Wohnungsunternehmen oder Genossenschaften Vorzug haben. Das Instrument wurde durch ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts im November 2021 jedoch de facto außer Kraft gesetzt. Ausnahmen bilden lediglich Häuser, die zum Beispiel leerstehen, die erhebliche Missstände aufweisen oder deren Verfall droht.

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Das könnte auf das Haus in der Seestraße durchaus zutreffen. »Letzte Woche war eine Juristin mit zwei weiteren Kollegen aus dem Bezirksamt und zwei Mitarbeitern des Milieuschutzes hier und haben sich ein Bild von dem Haus gemacht«, berichtet Mayer. Sie hätten ihm gesagt, dass die Mängel »erheblicher Natur« sein müssten, um auf das Vorkaufsrecht pochen zu können. Laut Mayer gibt es aber einen beschädigten T-Träger, Schimmelbefall in sämtlichen Wohnungen und viele weitere Schäden. Trotzdem freue man sich, dass die mit Kohleöfen beheizten Wohnungen vergleichsweise günstig seien. »Unsere Wohnung hat 108 Quadratmeter, wir wohnen dort zu viert: meine Partnerin, ich und unsere beiden Kinder. Und wir zahlen 505 Euro kalt«, erzählt Mayer.

Da die Mieten so niedrig sind, sehen die Mieter*innen jedoch eine erhöhte Gefahr, nach dem Verkauf an ein Unternehmen wie die Bluerock Group ihr Zuhause zu verlieren. In einer Pressemitteilung der Hausgemeinschaft heißt es: »Die Mängel am Haus sind schwerwiegend, eine Instandsetzung ist nötig. Wenn das Haus verfällt, müssen wir ausziehen. Wenn es teuer modernisiert wird und die Mieten steigen, ebenfalls. Deshalb wollen wir eine landeseigene Wohnungsbaugesellschaft als Käuferin, die sich an soziale Erhaltungsgrundsätze gebunden sieht.«

Die Forderung nach dem Vorkaufsrecht ist in ganz Berlin wieder vermehrt zu vernehmen. Neben den Hausgemeinschaften der Weichselstraße 15, der Rigaer Straße 95/96 und der Liebigstraße 14 kommt jetzt auch noch die Seestraße 110 hinzu.

Die Bluerock Group, die das Haus kaufen will, ist kein unbekanntes Unternehmen. Auch das Haus Corinthstraße 56 im Friedrichshainer Laskerkiez sollte 2021 an die Firma verkauft werden. »Das Unternehmen hat uns sogar einen Brief geschrieben, in dem sinngemäß stand, dass wir uns keine Sorgen machen sollten«, erzählt ein Bewohner des Hauses, der damals in den Vorkaufsprozess involviert war, gegenüber »nd«. Doch die Mieter*innen seien skeptisch gewesen. »Das stand im Widerspruch zu dem, was wir auf ihrer Internetseite gesehen haben. Dort wurde sich mit der Gewinnmarge des An- und Verkaufs der Häuser gerühmt.« Die Hausgemeinschaft wurde aktiv und suchte überall nach einem alternativen Käufer. Mithilfe des Vorkaufsrechts gelang es, das Haus vom Investor Michael Kölmel kaufen zu lassen, der sich dazu verpflichtete, auf Luxusmodernisierungen und exorbitante Mietsteigerungen zu verzichten.

Vor zwei Jahren gab es also einen Erfolg für die Mieter*innen in Friedrichshain. Aber was wird aus dem Haus in der Seestraße 110? Und was aus den anderen, vom Verkauf an private Immobilienunternehmen bedrohten Häusern? Sicher ist nur, dass es notwendiger Änderungen des Vorkaufsrechts auf Bundesebene bedarf. Im April 2022 legte Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) einen entsprechenden Gesetzentwurf vor, der jedoch am Widerstand der FDP scheiterte.

Manfred Hübner ist 73 Jahre alt und wohnt bereits seit 23 Jahren in der Seestraße 110: Für seine 39-Quadratmeter-Wohnung zahlt er 246 Euro Kaltmiete. Er hofft darauf, dass der Bezirk aktiv wird, ärgert sich aber über das mittlerweile zahnlose Gesetz. »Vorkaufsrecht, Milieuschutz. Das ist natürlich von staatlicher Seite nicht schlecht, wenn es wirklich ziehen würde.«

Bis es zu einer ernsthaften Reform kommen wird, ist es für die Seestraße 110 vermutlich schon zu spät. Die Hausgemeinschaft hofft deshalb, dass die gravierenden Missstände und Mängel am Haus ausreichen, um einen Vorkauf vor dem 10. Oktober zu veranlassen.

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