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»Aufheben, Wegwerfen«: Jedem eine eigene Kischte

Auf Umwegen zur Schönheit: Valentin Groebner versucht sich in seinem Buch »Aufheben, Wegwerfen« an einer Bestandsaufnahme der komplizierten Beziehung zwischen den Dingen und ihren Besitzern

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 4 Min.

Jeder hat ein Kästchen.« Der Satz fällt im Psychothriller »Following«, dem ersten Spielfilm des derzeit mit »Oppenheimer« wieder schwer gefeierten Regisseurs Christopher Nolan. Es geht darin um Kriminelle, die nicht aus finanziellen Motiven in Wohnungen einbrechen, sondern um die Bewohner zu verunsichern, indem sie deren privateste Räume in Unordnung bringen. Sie suchen als Erstes nach den Kästchen, also jenen Schuhkartons, Schubladen oder Geheimfächern, in denen Menschen persönlichste Artefakte, Liebesbriefe und Erinnerungsstücke aufbewahren. Ein Einbruch in diese Sphäre ist eine viel gröbere Verletzung des Intimen als ein simpler Diebstahl.

Der Luzerner Historiker Valentin Groebner erwähnt den Film in seinem Essay »Aufheben, Wegwerfen« nicht, doch verleiht er dessen Aussage eine beinahe anthropologische Evidenz. Jeder Mensch hat ein Kästchen, der intime Bezug zu Gegenständen war schon lange vor der Moderne verbreitet. Bereits die Legionäre der Römischen Armee trugen in dafür vorgesehenen Taschen ihre persönliche Habe mit sich. Und selbst die jedes Privateigentum strikt ablehnende Gemeinschaft der Hutterer gewährt ihren Mitgliedern traditionell den Besitz der »Kischte«, einer hölzernen Truhe, in der das Eigene der Gemeinschaft entzogen werden darf. Auch der Autor präsentiert einige seiner Schätze, darunter für Außenstehende so Banales wie eine vor Jahren abgestempelte Fahrkarte. Warum bewahrt er sowas auf? »Es sind materielle Überreste von meinen eigenen Zuständen in der Vergangenheit, die sie unsichtbar an sich tragen, und deswegen kann ich sie nicht wegwerfen.«

Er erkennt in ihnen eine Kraft, die auch in mittelalterlichen Talismanen und Amuletten waltete. »Magie ist die Aufladung eines Gegenstands mit jener Macht, die sein Benutzer dann selbst wieder aus ihm hervorholt.« Dem darf man entnehmen, dass es nicht nur ein Nebeneffekt ist, dass die magischen Gegenstände in all den Kästchen auf niemand anderen außer die Besitzer so stark wirken, sondern dass eben darin ihre Energie liegt: Ihr Zauber enthebt sie dem allgemeinen Verständnis wie Gebrauch und eben diese Singularität bezaubert dadurch wiederum den Besitzer.

Diese Bindung kann für andere noch zum Problem werden, wie Angehörige beim Sichten von Nachlässen bemerken. Was einem Verstorbenen lieb und teuer war, dürfte auf viele Kinder und Enkel keinerlei Reiz ausüben. Doch besteht nicht eine Verpflichtung zur Bewahrung der ehedem so geliebten Stücke? Groebner gibt durchaus pragmatisch Entwarnung. Ihm zufolge sind die Lebenden den Toten nichts schuldig. Man solle daher nicht alles aufheben, sondern nur das, was einem selbst Freude bereite.

Schön, in einem allgemein anerkannten Sinn, muss es dafür nicht sein. Aus ästhetischen Überlegungen hält sich der Autor ohnehin weitgehend heraus. Zwar geht es ihm auch darum zu ergründen, warum er und Menschen in seiner Umgebung von bestimmtem Zeug so affiziert sind, er vermeidet jedoch objektive Bestimmungen. Mehr noch: Wann immer von ihm zitierte Denkerinnen und Denker die Wir-Form verwenden, also ihre eigenen Erfahrungen als manifeste Erkenntnisse zu verkaufen suchen, winkt er genervt ab. Groebner liefert in diesem sehr persönlichen Text keine Theorie oder Lehre vom Schönen, sondern widmet sich lieber einer Beschreibung des verwickelten Verhältnisses zwischen den Dingen und ihren Besitzern.

Es handelt sich um eine komplizierte Beziehung, in der die Partner auch schon mal die Seiten wechseln. Nicht immer ist sicher, wer mehr Macht ausübt, die Person über das Zeug oder das Zeug über die Person. Das zeigt sich vor allem an Sammlern, jene Getriebenen, die das Schöne, auch wenn sie es ihr Eigen nennen, nicht im Griff haben, da es statt Befriedigung nur Mangel, nur noch mehr Verlangen auslöst. Ist die Besitzlosigkeit somit erstrebenswerter? Groebner berichtet vom befreienden Ausflug auf einen Wertstoffhof, von der Freude am Entsorgen, den fröhlichen Gesichtern all der Menschen, die Entbehrliches in die Container warfen. Er empfiehlt also durchaus die bewusste Trennung von Dingen, gibt ihr auch dem gedankenlosen Horten den Vorzug.

Doch Recycling allein macht nicht selig. »Leichtigkeit wird nicht durch Wegwerfen erzeugt, sondern durch die Kombination mit unerwartetem Neuen, und durch das Akzeptieren von Zufall und Unplanbarkeit. Schönheit ist dann nicht etwas, was man arrangiert hat, sondern das Ergebnis der Abwesenheit von Kontrolle.« Man liest das auch als Absage an allzu perfekte Inszenierungen privater Räume, an eine von Marie Kondō gepredigte Allmacht über die eigenen vier Wände. Wer nach Schönheit strebt, wird sie nicht mit einem klaren Plan erreichen, sondern über Umwege, Erlebnisse, Krisen und indem man Dinge auf diesem Weg mitnimmt, die einem selbst später die Geschichte der eigenen kleinen, dummen Odyssee namens Leben zuflüstern.

Valentin Groebner: Aufheben, Wegwerfen. Vom Umgang mit schönen Dingen. Konstanz University Press, 171 S., geb., 20 €.

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