- Kultur
- 54. Historikertag
Stetige Aufklärung tut not
Geschichtsprofessor Lutz Raphael über die Verantwortung von Wissenschaft, fragile Fakten und Fake News
Professor Raphael, mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier werden Sie den 54. Deutschen Historikertag in Leipzig eröffnen, der dieses Jahr unter dem Motto »Fragile Fakten« steht. Was ist darunter zu verstehen? Eine Auseinandersetzung mit »Fake News«, die im Laufe der Menschheitsgeschichte auch aus der Feder von Geschichtsschreibern flossen, insbesondere den ihre Herrscher umschmeichelnden Hofchronisten?
Nein, es wird zwar auch um Fake News vom Altertum bis in die Gegenwart gehen. »Fragile Fakten« meint aber viel mehr. Die moderne Geschichtswissenschaft anerkennt die Fragilität historischer Tatsachen, das heißt, vermeintlich gesicherte Erkenntnisse müssen immer wieder überprüft werden. Was ist wahr, was falsch, was authentisch, was manipuliert? Welche Fakten dienen der Mystifizierung oder dem Missbrauch für bestimmte politische Interessen, der Konstruktion von nationalen Mythen und gesellschaftlichen Feindbildern? Das verlangt akribische Quellenkritik, aber auch stetige Selbstkritik und Selbstbefragung. Also: Sind die genutzten Archivalien institutionelle Eingriffe wie ihre Vorauswahl als bewahrenswertes Schriftgut mit Vorsicht zu genießen? Unterliegt der Forscher gar selbst der Versuchung der einseitigen Selektion von Fakten, da ihm eine bestimmte Deutung vorschwebt? Werden gegenläufige Fakten bewusst zurückgehalten und gar absichtlich auf genaueres Wissen über ein Ereignis oder einen Prozess verzichtet? Es steht letztlich nichts Geringeres auf dem Spiel als die Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit der Historiker und Historikerinnen.
Dürfen Geschichtswissenschaftler politische Meinungen vertreten oder sollten sie, der Objektivität verpflichtet, apolitische Menschen sein?
Geschichte ist per se politisch. Und natürlich dürfen sich Historiker und Historikerinnen politisch positionieren. Sie sollten und können keine weltfremden Wesen sein. Gegenstand ihrer Forschungen sind konkrete historische Entwicklungen und Narrative, die vielfach in unsere Gegenwart hinein wirken, die öffentliche Meinungen, das öffentliche Bewusstsein und Gedächtnis beeinflussen. Deshalb beschäftigt sich der diesjährige Historikertag insbesondere mit dem politischen Gebrauch wie auch dem Missbrauch von Fakten und »Fake News«.
Nein, er ist kein Freskenmaler, sondern Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands: Lutz Raphael. 1955 in Essen geboren, studierte er an der Universität Münster Geschichte, Romanistik, Philosophie und Soziologie, promovierte dort über die kommunistischen Parteien und Gewerkschaften in Italien und Frankreich in den 70er Jahren und habilitierte sich an der TU Darmstadt mit einer Arbeit zur Annales-Geschichtsschreibung in Frankreich. Seit 1996 ist er Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier sowie Mitherausgeber der Zeitschrift »Neue Politische Literatur« und des »Journal of Modern European History«.
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Wie können Historiker »Fake News« entgegenwirken?
Durch beständige historische Aufklärung.
Wer diese aber nicht annehmen will? Es gibt genügend Beispiele dafür, dass die Menschen eben leider nicht aus ihrer Geschichte zu lernen bereit sind. Das nährt nicht gerade Optimismus.
Ich bin überzeugt, dass historische Aufklärung nicht nur notwendig ist, sondern auch wirksam. Über den Grad und das Ausmaß ihrer Wirksamkeit kann man verschiedener Meinung sein, optimistisch oder auch pessimistisch. Egal wie die Antworten ausfallen, es bleibt etwas zu tun. Und dafür sind alle Möglichkeiten, die rechtsstaatlich in der Bundesrepublik gegeben sind, zu nutzen. Das betrifft die institutionelle Geschichtskultur, die universitäre wie außeruniversitäre Geschichtswissenschaft und den Geschichtsunterricht an den Schulen, aber auch die Geschichtsarbeit in der breiten Öffentlichkeit. Nur durch unermüdliche Aufklärung kann man Geschichtsklitterung und Geschichtsmythen wirksam begegnen. Die Zusammenarbeit der Fachkollegen mit den Geschichtslehrern zur Abwehr gerade auch von Verschwörungstheorien ist ganz wichtig. Man kann skeptisch sein, was durchschlagende Erfolge anbelangt, aber man darf nicht zögern oder kapitulieren, wenn es ans Handeln geht.
Wie würden Sie das Geschichtsbewusstsein respektive die historische Sensibilität der Deutschen bewerten? Mir ist in der Aiwanger-Affäre aufgefallen, dass bei spontanen Straßenumfragen das von dem Gebrüderpaar vor über 35 Jahren fabrizierte und verteilte antisemitische Flugblatt von heutigen 16- und 17-Jährigen wesentlich schärfer verurteilt wurde als von älteren Bürgern, die bereit sind, dieses als eine Jugendsünde zu bagatellisieren. Dieser Befund widerspricht dem oft kolportierten Bild der historisch unwissenden und desinteressierten Jugend.
Nun gut, es gibt sicher ebenso viele Jugendliche, die wenig Interesse an Geschichte aufweisen, wie junge Menschen, die aufrechte moralische Empörung über die Massenverbrechen des Nationalsozialismus zeigen, selbst wenn sie über diese nicht im Detail informiert sind, aber dennoch Sensibilität und Empathie für die Opfer empfinden. Ansonsten glaube ich, dass es unter den Deutschen durchaus ein solides, fundamentales Geschichtsbewusstsein gibt, auch ein Gespür dafür, was die nationalsozialistische Vergangenheit für die Gegenwart bedeutet, welche Verantwortung und Verpflichtung damit verbunden sind. Dies ist die eine Seite. Andererseits ist das Geschichtsbewusstsein im Sinne von Faktenkenntnis sowie moralischer und politischer Bewertungen unterschiedlich ausgeprägt unter den Deutschen, und dies ist keine Generationenfrage. Die Behauptung, dass mit jeder neu heranwachsenden Generation Geschichtsbewusstsein vor allem für das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte schwinde, finde ich absurd.
Deuten aber die immer wiederkehrenden Skandale aus der Mitte der Gesellschaft nicht auf eine nach wie vor unbewältigte Vergangenheit der Deutschen hin? Es gab vor einigen Jahren einen CDU-Bundestagsabgeordneten, der die Juden selbst als »Tätervolk« denunzierte. Davor sprach Martin Walser von der »Auschwitz-Keule«. Um nur einige Beispiele zu nennen.
Ja, es gibt immer wieder solche Entgleisungen, Verfehlungen oder Versuche, eine als Last empfundene moralische Schuld und Zuweisung von historischer Verantwortung loszuwerden. Ich befürchte, wir werden solches immer wieder erleben, trotz aller Erkenntnis. Gerade deshalb muss man historische Aufklärung beständig weitertreiben und darf darin nicht nachlassen. Es geht nicht an, zu sagen: »Das haben wir jetzt ein und für alle Male geklärt, darüber reden wir nicht mehr.« Das wird nicht gelingen. Man muss die Konflikte, die nicht verschwinden werden, immer wieder neu aufnehmen und austragen. Das wissen die Kollegen und Kolleginnen, die bei uns als Fachleute auf diesem Gebiet tätig sind. Unser Verband weist in dieser Hinsicht große Kompetenz und Verantwortung auf. Wir haben exzellente Experten in der Gedenkstättenarbeit. Und es ist eben auch sehr wichtig, dass schon sehr früh Jugendliche wie natürlich generell alle Bundesbürger mit den Spuren der Vergangenheit gerade in ihrer Ortschaft und ihrer Region konfrontiert werden, die Topografie des Terror an ihren Wohn- und Arbeitsorten kennenlernen.
Hat die deutsche Historikerzunft selbst ein rechtsradikales Problem, etwa mit Karlheinz Weißmann und Rainer Zitelmann?
Ich bin froh, dass Sie nur diese zwei Namen nennen. Ich vermute, Sie müssten lange nachdenken, um eventuell noch einen dritten oder vierten zu finden. Es gibt sicher Kollegen und Kolleginnen, die anfällig sind für rechtsradikales Gedankengut. Mit solchen muss man sich inhaltlich auseinandersetzen. Ich sehe aber, um es mal plakativ zu formulieren, keinerlei Hinweise darauf, dass es in unserem Verband, in unserem Fach eine Hinwendung zu völkischen Geschichtsbildern gäbe oder unter unseren jungen Leuten nationalistische und rechtspopulistische Strömungen Zulauf hätten. Ich glaube, mich dafür verbürgen zu können, dass die Historiker und Historikerinnen der Bundesrepublik Deutschland sehr sensibel und immun gegenüber jeglichen demokratiefeindlichen Tendenzen sind.
Stellen Zuwanderung und unsere multikulturelle Gesellschaft neue Herausforderungen an die Geschichtswissenschaft?
Auf jeden Fall. Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, politisches Asyl oder auch Arbeit und existenzielle Sicherheit, ob nun einzelne junge Leute oder auch ganze Familien, bringen ihre eigenen Geschichten mit und hegen auch die berechtigte Erwartung, dass ihre Perspektiven in die Geschichtskultur dieses Landes einfließen. Natürlich steht im Fokus der hiesigen Geschichtswissenschaft die Geschichte der Deutschen, die aber nicht isoliert, sondern in überregionalen und globalen Zusammenhängen zu erforschen und darzustellen ist und mit zunehmender Migration auch stärker im Vergleich mit anderen historischen Erzählungen zu studieren wäre. Beispiel: koloniale Verbrechen und Holocaust. Vor allem jüngere Leute fragen hier nach. Und da muss die Geschichtswissenschaft antwortfähig sein. Der Historikertag bietet hierzu in verschiedenen Sektionen spannende Angebote. Ich hoffe, dass die Nachfrage groß sein wird, sowohl bei Lehrern wie Schülern. Unser Historikertag ist nicht nur für Fachkollegen reserviert, sondern kann und soll auch von der Öffentlichkeit frequentiert werden.
Wie stehen Sie zu Vergleichen oder gar Gleichsetzung von Völkermorden unter kolonialen Zeichen wie an den Nama und Hereo oder auch der Nakba, der Vertreibung und Ermordung von Palästinensern zur Zeit der Gründung des Staates Israel, sowie dem millionenfachen Mord an den europäischen Juden? Sollten solche Vergleiche oder Opferhierarchisierungen staatlicherseits verboten werden?
Verbieten sollte und kann man solche Vergleiche auf keinen Fall. Die Vergleiche ergeben sich zwangsläufig auf Grund der unterschiedlichen erinnerungspolitischen Ansprüche der Nachkommen der Opfer. Differenzierungen oder gar Hierarchisierungen irritieren verständlicherweise alle Opfergemeinschaften. Das darf Historiker aber nicht davon abhalten, diese schwierigen Debatten zu führen. Wir haben gleich am ersten Tag eine Veranstaltung, die sich mit dem Thema Holocaust und Genozid auseinandersetzt und die verschiedenen Perspektiven kritisch untersucht. Politische Manipulation solcher an sich erst mal völlig berechtigten Vergleiche muss entlarvt werden. Was ist eigentlich gemeint, wenn man vergleicht? Durch Verbote oder politische Sprachregelungen wird man jedenfalls den teils sehr emotional geführten Diskussionen nicht Herr. Zur Klärung historischer Sachverhalte tragen sie nicht bei. Wie auf anderen Feldern in der Geschichtswissenschaft ist sorgsam zu recherchieren und zu unterscheiden zwischen Massakern, Völkermorden und Genoziden.
Muss oder kann sich Geschichtsschreibung an Political Correctness halten? Sind Trigger-Warnungen gewissen Quelleneditionen fürderhin voranzustellen? Diskutiert man im Historikerverband Vorgaben, beispielsweise zum N- oder auch M-Wort?
Nein, solche Sprachregelungen gibt es nicht. Unter den Kollegen und Kolleginnen gibt es natürlich unterschiedliche Meinungen. Sprachsensibilität ist wohl auch generationenspezifisch. Ich meine aber, dass die historische Quellensprache, auch wenn sie noch so schockierend ist, nicht durch Aussparungen oder Abkürzungen verharmlost werden darf. Gerade der Jargon des Nationalsozialismus, ob in der Alltags- oder Bürokratensprache, offenbart eine Abgründigkeit, die den ungeheuren Verbrechen eigen ist: eine Mischung aus scheinneutraler Sachlichkeit und tödlichem, mörderischem Hass. Das sollte heutigen Schülern und Schülerinnen zu einem geeigneten Zeitpunkt in der richtigen Form vor Augen geführt werden. Und selbstverständlich können Quelleneditionen nicht redigiert werden. Das wären Veränderungen und Verfälschungen von historischen Überlieferungen, die geradezu blind machen würden für historische Zusammenhänge und Wirkungen, Ursachen und Folgen. Das Gefährliche an der nationalsozialistischen Sprache bestand aber gerade in der Vernebelung konkreter Mordpläne durch Formeln wie »Endlösung«. Da stellt sich nicht sofort Horror ein.
Das erfährt man erst durch die Vollzugsberichte der SS-Exektionskommandos oder von KZ-Kommandanten.
Ja. Das Bemühen um eine politisch korrekte Sprache ist nachvollziehbar, gerade hinsichtlich der Exzesse staatlicher Gewalt aus ideologischen Motiven in der deutschen Geschichte. Die Vorsichtsmaßnahmen gegenüber brutalisierender Sprache sind verständlich. Aber die Regeln der Sagbarkeit sollte man nicht übertreiben. Es kann nicht sein, dass man an Universitäten in vorauseilender Vereinfachung der Geschichte schockierende Dokumente einfach ausspart.
Welche eklatante Desiderate in der Geschichtsforschung gibt es Ihrer Ansicht nach in der Geschichtsforschung noch?
Das ist ja das Gute und zugleich Irritierende an Wissenschaft: Sie ist unersättlich. Wenn man denkt, dazu ist nun genug geforscht worden, dieses Kapitel ist ausgelesen, taucht plötzlich an einer anderen Ecke eine Frage, ein ungeklärtes Phänomen auf. Als Zeithistoriker war ich der Meinung, dass zum Nationalsozialismus fast alles gesagt sei, doch dann hat mich meine Beteiligung an der Regionalgeschichtsforschung eines Besseren belehrt: Da ist noch vieles aufzuarbeiten. Das gilt auch für die Geschichte der Bundesrepublik, vor allem für die Zeit der Wiedervereinigung. Es ist noch enorm viel zu erforschen, allein hinsichtlich der Erfahrungsgeschichten Ostdeutscher von den End-80er-Jahren über die »Wende« bis in die 90er Jahre. Welche neuen Eindrücke, welche Erwartungen und welche Enttäuschungen haben die Menschen bestimmt? Als jemand, der wie ich in der alten Bundesrepublik und dann auch noch in deren westlichen Provinz groß geworden ist, verheißt dies spannendes Neuland, vergangenheitspolitisch interessant, aber auch hinsichtlich aktueller Vorkommnisse. Und natürlich gibt es noch viel bezüglich der kolonialen und postkolonialen Geschichte aufzuarbeiten, wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Zusammenhänge weltweit. Kurzum, den Historikern und Historikerinnen gehen die Themen und Fragestellungen nicht aus, im Gegenteil. Und vor allem: Die Geschichtswissenschaft muss und will ihren Beitrag leisten zur Stärkung der Demokratie und Abwehr von Gefahren, die ein demokratisches Miteinander unterminieren.
Vom 19. bis 22. September findet in Leipzig der 54. Deutsche Historikertag statt. Die sächsische Messemetropole war bereits 1894 Gastgeber eines Treffens von Geschichtsprofessoren. Im Jahr darauf gründeten diese eine Dachorganisation, die heute den Namen Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) trägt. 1958 und 1968 war Leipzig Austragungsort von Tagungen der Historiker-Gesellschaft der DDR, die sich Ende 1990 auflöste. Der vom bundesdeutschen VHD gemeinsam mit dem Verband der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands e.V. (VGD) in der Regel alle zwei Jahre an einem anderen Ort ausgerichtete Historikertag, einer der größten geisteswissenschaftlichen Kongresse in Europa, steht diesmal unter dem Motto »Fragile Fakten«. Erwartet werden an die 3000 in- und ausländische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Einige Veranstaltungen sind öffentlich, das Begleitprogramm bietet unter anderem Einblicke in die Arbeiten des US-Fotografen Robert Capa 1945 in Leipzig, in das Archiv der Bürgerbewegung der Stadt sowie in jüdische und sorbische Geschichte (siehe Programm unter www.historikertag.de/Leipzig2023).
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