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Geflüchtetenlager in Berlin: Senat will Standards unterschreiten
Berlins Geflüchtetenunterkünfte sind voll, der Senat plant deshalb Verdichtung und Neubau. Doch das eigentliche Problem liegt bei fehlenden Wohnungen
Seit Monaten sucht Mustafa nach einer Wohnung. Der 22-Jährige sehnt sich nach Privatsphäre. »Ich möchte nicht mehr mit fremden Leuten zusammenleben«, erzählt er »nd«. Zurzeit lebt der junge Mann aus dem Irak in einer Geflüchtetenunterkunft in Lichtenberg. Davor hatte das Landesamt für Flüchtlinge (LAF) ihn in einer Unterkunft in Ahrensfelde untergebracht. Doch dort erlebte Mustafa, der offen mit seiner Homosexualität umgeht, regelmäßig Schwulenfeindlichkeit durch einen Mitbewohner. Deshalb wies ihm das Amt eine neue Unterkunft zu – nachdem er keine Wohnung gefunden hatte.
Berlins Geflüchtetenunterkünfte sind so gut wie voll. Von 32 163 Plätzen stünden nur noch 274 zur Verfügung, teilte der LAF-Sprecher Sascha Langenbach am Dienstag mit. »Die Kapazität in den Unterkünften liegt quasi bei null.« Die hohen Belegungszahlen hängen zum einen mit gestiegenen Ankunftszahlen von Geflüchteten zusammen. In den Monaten von Januar bis August beantragten 9936 Personen Asyl in Berlin, 3000 mehr als im Vorjahreszeitraum. Sie kommen vor allem aus Syrien, der Türkei, Afghanistan, Georgien und Moldau. Zusätzlich kamen in der Zeit etwa 11 000 Menschen aus der Ukraine nach Berlin, die wegen einer EU-Richtlinie kein Asyl beantragen müssen und deshalb gesondert erfasst werden. Zusammen sind das für 2023 rund 21 000 Neuankömmlinge.
Die SPD-Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe kündigte deshalb am Dienstag an, die Kapazitäten aufzustocken. Die Aufnahmezentren Tempelhof und Tegel sollen ausgebaut werden, etwa durch Leichtbauhallen, bestehende Lager »verdichtet«, die Quadratmeterzahl pro Person soll reduziert und die Akquise von Immobilien optimiert werden. »Standards werden unterschritten werden«, sagte Kiziltepe.
Was sie nicht sagte: Eine große Zahl der untergebrachten Geflüchteten könnte schon längst wieder ausziehen. Doch Geflüchtete und Migrant*innen finden in Berlin keinen Wohnraum.
Die Organisation Zusammenleben Willkommen vermittelt WG-Zimmer an Geflüchtete, unterstützt bei den bürokratischen Prozessen zur Kostenübernahme und bietet einmal im Monat Wohnraumberatung an. Es kämen Menschen in unterschiedlichen Situationen, erzählt Jona Burgstahler von der Organisation – neben Personen, die ein temporäres Zuhause wie eine Zwischenmiete verlassen müssten, und wohnungslosen Personen, säßen regelmäßig Geflüchtete in der Beratung, die noch in einem Heim lebten.
Gründe, warum sie nicht in den Unterkünften bleiben wollten, gebe es viele: untragbare sanitäre Bedingungen, sehr schlechtes bis hin zu gesundheitsbedenklichem Essen, Konflikte, die nicht mediiert würden, massive Überbelegung. »Mir wurden Videos gezeigt, da haben zwölf Menschen in einem sehr kleinen Raum in Stockbetten geschlafen«, so Burgstahler. Dazu kämen Kontrolle und Bevormundung etwa durch Meldepflichten, die schlicht die Freiheit der Geflüchteten einschränkten.
Dass viele dennoch nicht auszögen, liege zum einen an mangelnder Beratung in den Unterkünften. »Bei den Lagertouren erleben wir oft, dass Leute nicht einmal wissen, dass sie ausziehen dürfen«, erzählt Burgstahler. »Oder sie wurden nicht darüber informiert, dass sie Sozialansprüche haben, zum Beispiel auf Kostenübernahme bei der Miete.« Begäben sich Leute dann auf Wohnungssuche, träfen sie auf neue Hürden. »Was sind die relevanten Plattformen, wie schreibt man eine passende Bewerbung«, fasst Burgstahler die Fragen zusammen, bei denen die Berater*innen helfen.
Ein Thema sorge immer wieder für bürokratischen Stress: der Wohnberechtigungsschein (WBS). »Es ist total intransparent, wann er Menschen mit Aufenthaltsgestattung zusteht und wann nicht«, kritisiert Burgstahler. Voraussetzung sei eigentlich eine mindestens einjährige Aufenthaltserlaubnis. Doch wenn ein Familienmitglied den Titel verlängern müsste, verfiele dadurch das Recht auf den Schein. Dabei biete der WBS eine der wenigen Möglichkeiten, noch bezahlbaren Wohnraum in Berlin zu finden.
Wohnungen statt Lager – das fordert der Berliner Flüchtlingsrat vom Senat. Derzeit fokussiere sich die Sozialverwaltung zu sehr auf den Bau weiterer Unterkünfte, kritisiert der Sprecher Georg Classen. »Wenn man das Thema Wohnungen völlig außen vor lässt, dann schafft man ein Desaster.« Classen geht auf die katastrophalen Lebensbedingungen im Erstaufnahmezentrum am ehemaligen Flughafen Tegel ein: Mit 2,6 Quadratmetern pro Person gebe es keinerlei Privatsphäre, Kinderrechte würden missachtet und die Schulanmeldung werde rechtswidrig verweigert, regelmäßig komme es zu Gewalt gegen Bewohner*innen. »Es gibt zahlreiche Beschwerden über Übergriffe der Securities«, so Classen.
Für neue Lager müsste der Senat deshalb anders als in Tegel die Qualitätsstandards einhalten und nicht, wie von Kiziltepe angekündigt, die Standards noch weiter unterschreiten. Um langfristig den Auszug aus Unterkünften zu ermöglichen, sei es jedoch notwendig, Geflüchteten den WBS nicht mehr zu verweigern. »Zudem müssen qualifizierte Beratungsangebote für wohnungssuchende Geflüchtete und ihre potenziellen Wohnungsgeber*innen geschaffen werden«, fordert Classen.
Mustafa fühlt sich in dem Heim in Lichtenberg immerhin wohler als in Ahrensfelde. Aber er sucht weiter. »Ich möchte einfach frei sein«, sagt er.
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