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Dikmece gegen Goliath
Kämpfe gegen die Umweltzerstörung in der Türkei haben eine ungewohnte Dynamik entwickelt
Dikmece ist eine kleine Siedlung umgeben von weitläufigen Olivenhainen nahe der Stadt Antakya im Süden der Türkei. Bei den verheerenden Erdbeben im Februar blieben viele Häuser dort vom Einsturz verschont. Der Boden war offenbar so beschaffen, dass er den Gebäuden eine Standfestigkeit verleiht. Die meisten Einwohner*innen blieben und können ihre Gärten und Äcker weiter bestellen. Subsistenzwirtschaft ist nach dem Beben noch wichtiger geworden, weil das Einkommen der Menschen oft gering ist und auch die Infrastruktur – Zugang zu Wasser, frischen Nahrungsmitteln, Einkaufsmöglichkeiten, Schulen – noch Monate nach der Katastrophe unzureichend ist oder komplett fehlt.
Zudem sind die Menschen in den Erdbebengebieten mit riesigen Mengen an Schutt konfrontiert. Dem UN-Entwicklungsprogramm zufolge fallen insgesamt bis zu 210 Millionen Tonnen an. Alleine in der Stadt Antakya müssen rund 90 Prozent der Gebäude abgerissen werden. Ohne Pause fahren die Lastwagen mit den giftigen Trümmern von den Baustellen zu den Schutthalden. Der Staub in der Luft reizt Augen, Haut und Atemwege. Mediziner*innen warnen längst vor schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen. Umweltschützer*innen schauen außerdem auf die ökologischen Auswirkungen der Umweltgifte und befürchten eine Belastung von landwirtschaftlichen Böden und dem Grundwasser. Das Abladen des giftigen Bauschutts sorgt in der Provinz Antakya immer wieder für Proteste und Straßenblockaden.
Nun droht den Menschen in Dikmece auch noch die Vertreibung von ihrem Land. Ein kürzlich verabschiedetes Gesetz ermöglicht es, im Erdbebengebiet landwirtschaftliche Flächen in Bauland umzuwandeln. Auch die Felder in Dikmece sollen enteignet werden, damit dort Komplexe der staatlichen Wohnungsbaubehörde errichtet werden können, so sieht es ein Amtsbeschluss vor. Die der Regierungspartei AKP nahestehenden Baufirma Sarıdağlar İnşaat hat für rund 1400 neue Gebäude samt Infrastruktur schon den Zuschlag erhalten. Im Dorf regt sich jedoch Widerstand – gegen die Enteignungen wurden Klagen eingereicht. Noch laufen die Gerichtsprozesse.
Die Bewohner*innen versuchen, ihre landwirtschaftlichen Flächen und Olivenhaine zu verteidigen und organisieren Widerstand. »Sermaye Defol, Bu Topraklar Bizim« steht auf einem Banner an dem errichteten Protest-Pavillon an der Dorfstraße: »Kapital verzieh‘ dich, das ist unser Grund und Boden«. Seit dem 31. Juli steht dort eine Mahnwache. An diesem Tag hatten Baumaschinen versucht, auf ein Feld einzudringen, mehrere gewalttätige Übergriffe von Sicherheitskräften folgten. Allerdings wuchs mit diesem Übergriff die Solidarität mit dem kleinen Dorf.
Die Protestbewegung werde inzwischen von verschiedenen Organisationen unterstützt, berichtet die Aktivistin Selver Büyükkeleş, darunter ökologische, sozialistische und feministische Gruppen sowie Gewerkschaften. Gemeinsam mit anderen Überlebenden des Erdbebens war Büyükkeleş schon Monate in Dikmece aktiv. Sie hat mit den Menschen vor Ort nach dem Erdbeben Unterstützungsnetzwerke aufgebaut, ein Kulturprogramm organisiert und Anlaufstellen für Frauen geschaffen. Als Büyükkeleş vom Enteignungsbescheid erfährt, hilft sie sofort. »Die Olivenhaine und landwirtschaftlichen Flächen sind die Lebensgrundlage der Menschen«, sagt sie. »Wovon sollen sie dort leben, wenn ihnen diese weggenommen werden?«
Die Aktivistin fürchtet bei der geplanten Großbaustelle nicht nur eine ökologische Gefahr durch die Verschmutzung von Luft, Grund und Wasser während der Bauphase. Mit dem Bauvorhaben sieht sie auch eine Intensivierung der Verdrängungs- und Assimilationspolitik der vielfach arabisch-alevitischen Bevölkerung. Es sei »sowohl ein materieller als auch ein kultureller Angriff auf die Menschen hier vor Ort.« In der historischen Altstadt sei kein Stein mehr auf dem anderen. Aber anstatt dort für die Containerstadt-Bewohner*innen sichere Orte zur Rückkehr auf staatlichem Grund aufzubauen, werde versucht, in Dikmece privates Land in lukrative Großbaustellen umzuwandeln. Auf Kosten der dortigen Bevölkerung. Die Begründung – die Enteignung sei wegen des Wiederaufbaus nach den Erdbeben notwendig – entpuppt sich als Farce.
Schon seit Jahren soll die geschichtsträchtige Region mithilfe von Investoren und umfangreichen Stadtentwicklungsprojekten für touristische Zwecke umgebaut werden. Wenn die Vorhaben umgesetzt werden, dann wird sie zu einer Kulisse ihrer selbst und ihrer historischen Identität beraubt, befürchtet der Journalist Bahadır Özgür bei einer Veranstaltung in Istanbul. Die umfassende Zerstörung durch die Beben ebne diesen Umbauplänen den Weg. Damit geht es für die Menschen in Dikmece nicht nur um die Enteignung ihrer Ländereien, sondern um die »grundlegenden Bedingungen für ein Leben an diesem Ort«.
Für die Aktivist*innen in Dikmece ist der Protest in Akbelen ein Vorbild: In der Nähe des Örtchens İkizköy, in der Provinz Muğla an der Westküste der Türkei, fechten Dorfbewohner*innen und Umweltaktivist*innen schon seit über zwei Jahren einen zähen Kampf gegen das türkische Großkapital aus. Der nahe Akbelen-Wald soll abgeholzt und zu einem Braunkohletagebau umgewandelt werden. Die İÇ Holding und die Limak Holding, beide führende Konzerne, halten jeweils zur Hälfte die Anteile an YK Enerji, der Betreiberin der Kraftwerke Yeniköy und Kemerköy.
Als die Pläne der Konzerne im Jahr 2020 öffentlich wurden, organisierten die Bewohner*innen einen umfangreichen Protest und haben ein Zeltlager am Rande des Waldes aufgebaut. Seit Ende Juli wird die Räumung des kleinen Waldes vorbereitet. Polizei, Gendarmerie und Sicherheitskräfte greifen die Protestierenden immer wieder an. Viele von ihnen sind ältere Dorfbewohner*innen. Auch sie bekommen den Strahl des Wasserwerfers, Tränengas und Schlagstöcke ab. Die Abgeordnete Perihan Koca, die für das Wahlbündnis rund um die Grüne Linkspartei (YSP) jüngst ins Parlament einzog, begleitet die Proteste vor Ort. Sie sieht die massive Gewaltanwendung als Teil der autoritären Politik des Staats, der immer rigider vorgehe: »Bereits kleinste Versammlungen werden nicht mehr geduldet. Sofort wird Polizeigewalt angewendet.« Während mehrere Aktivist*innen bei Geländeräumungen verletzt und festgenommen werden, fangen hinter den Polizeiabsperrungen die Rodungen an. In der Natur hat der Kahlschlag bereits jetzt tiefe Spuren hinterlassen.
Viele der Aktivist*innen sind mittlerweile erschöpft. Trotzdem wollen sie das verbliebene Protest-Camp nicht aufgeben. Levent Büyükbozkırlı von der İklim Adaleti Koalisyonu (Koalition für Klimagerechtigkeit) berichtet am 11. September von erneuten Schikanen der Gendarmerie: »Sie haben einen unserer Kollegen verprügelt und alle privaten Gegenstände von uns und den Umweltorganisationen ohne Erlaubnis entfernt.« Die Aktivist*innen wurden mit Gewalt von dem Gelände gedrängt. »Wir haben erneut rechtliche Schritte eingeleitet und warten darauf, dass der Staatsanwalt die Rechtsverletzung bestätigt, damit wir das Gelände wieder betreten können«, sagt Büyükbozkırlı. Allerdings befürchten die Aktivist*innen, dass die jüngsten Räumungen der Auftakt für eine endgültige Vertreibung ist.
Die beiden Großkonzerne, die sich in Akbelen zusammengetan haben, gehören zur AKP-nahen »Fünfer-Clique«. Damit meinen Oppositionelle in der Türkei fünf AKP-nahe Unternehmen, die in den letzten Jahren den Großteil der Mega-Projekte an Land ziehen konnten. Vielfach standen sie wegen Schmiergeld-Affären zwar in der Kritik, aber ihre Investitionen in die Eisen-, Stahl- oder Zementindustrie sind unvermindert weitergeflossen. Gewinnträchtige Staudämme, Flughäfen oder Einkaufszentren entstanden. Büyükbozkırlı kritisiert daran, dass ein rücksichtsloser Raubbau an der Natur betrieben werde. Bedenkenlos würden artenreiche Ökosysteme geopfert. Für die Konzerne. Längst sei der Protest in Akbelen »ein Kampf um das grundlegende Recht auf Leben«, erklärt die Umweltingenieurin Deniz Gümüşel, die während des Protests selbst immer wieder Repressionen durch die Polizei ausgesetzt war. Das zeige die enorme Luft- und Wasserverschmutzung durch das Bergbaugebiet und die Vertreibung der Dorfbewohner*innen.
Die Ökologiebewegung in der Türkei hat sich zu einer zähen und kreativen sozialen Kraft entwickelt. Klimaaktivist Büyükbozkırlı übt dennoch Kritik an den Strukturen: Die organisierte Umweltbewegung versäume es oft, die ökologischen Zerstörungen an ihren Wurzeln anzugehen. Es müssten Aktionen organisiert werden, »die über die Verteidigung hinausgehen«, erläutert er. Erforderlich sei zudem ein anderer Fokus, damit der Widerstand noch breiter aufgestellt werden könne: »Um dies zu erreichen, muss die Umweltbewegung erkennen, dass Frauenbewegungen, Refugee-Movements, LGBTQ und gewerkschaftliche Bewegungen tatsächlich schon grundlegende Umweltkämpfe führen. Wir müssen stärker zusammenarbeiten.«
Der solidarische und politische Protest in Dikmece ist hierfür ein Beispiel. Als am 26. August zu einer großen Kundgebung aufgerufen wurde, zogen über 1500 Menschen durch die Ortschaft. Nicht nur der Protest selbst, sondern auch der Prozess, der dazu führte, sei wichtig gewesen, sagt İrem Kayıkçı von der feministischen Organisation Mor Dayanışma (Lila Solidarität). Kayıkçı, eigentlich Lehrerin in Istanbul, ist nach den Erdbeben in ihre Heimatregion zurückgekehrt, um den Aufbau von Frauenstrukturen zu unterstützen. Sie sagt: »So viele Frauen sind Teil dieses Protests. Sie haben begonnen, über das gemeinschaftliche Miteinander und die politischen Voraussetzungen dafür zu sprechen. Der Anblick der Menschenmenge am Aktionstag gab dann allen Hoffnung.« Neben kämpferischen Grüßen an die Mahnwache in Akbelen – »Solidarität von Dikmece bis Akbelen!« – hörte man auch seit den Erdbeben oft gerufene »Ma nıhna rıhna hon«, eine Kampfansage der arabisch-alevitischen Bevölkerung von Antakya: »Wir gehen nicht, wir bleiben hier.«
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