Wagenknecht und Guerot: Eine Allianz der Unvereinbaren

In zentralen europapolitischen Fragen liegen Sahra Wagenknecht und Ulrike Guerot meilenweit auseinander

  • Wulf Gallert und Markus Pohle
  • Lesedauer: 9 Min.

Am 20. August 2023 twitterte Ulrike Guerot: »Egal wie das Wetter wird, es steht ein heißer Herbst bevor.« Sie verlinkte sowohl Sahra Wagenknecht als auch einen Artikel im »Cicero«, der über eine mögliche Kandidatur Guerots für eine Wahlliste Wagenknechts zur Europawahl im nächsten Juni berichtete. Ein Absurdum, wenn man Folgendes bedenkt: Es ist noch keine fünf Jahre her, dass Die Linke auf ihrem Europaparteitag in Bonn 2019 eine tiefgreifende Auseinandersetzung über ihr Verhältnis zu Europa und der EU geführt hat. Während der Programmentwurf in seiner Ursprungsfassung die EU als »militaristisch, undemokratisch und neoliberal« titulierte und damit in die auch in den Linksparteien in Spanien und Frankreich dominierende Anti-EU-Tonalität einstimmte, warteten Vertreter und Vertreterinnen des Reformerflügels mit einem Gegenangebot auf: der Forderung nach einer Republik Europa, in welcher nach dem Zweikammerprinzip gearbeitet und für die wesentliche bisher nationale Kompetenzen an ein deutlich gestärktes europäisches Parlament mit Initiativrecht abgegeben werden soll.

Eine der geistigen Urheber*innen dieser Idee: Jene Ulrike Guerot, die jetzt offensichtlich mit dem Gedanken spielt, für den Teil der Linkspartei, der sich abspalten will, ins europäische Parlament zu ziehen. Dieser Teil der Partei hat den Vorschlag einer europäischen Republik seinerzeit vehement und am Ende erfolgreich bekämpft.

Zwischen dem, was die reformorientierten Akteure in der Linken aus Guerots Utopie gemacht haben, welche sie 2016 in ihrer Streitschrift »Warum Europa eine Republik werden muss!« dargelegt hatte, und Guerots eigenen Aussagen bestand von Anfang ein Spannungsverhältnis. Sie beschrieb Europa als eine potenzielle Heimat jenseits des Nationalstaats und warnte davor, mit kleinen Korrekturen einem in seinen Institutionen maroden Konstrukt hinterherzufegen. Wie dies konkret umgesetzt werden soll, blieb weitestgehend im Dunkeln.

Die Autoren

Wulf Gallert, Jahrgang 1963, ist Vizepräsident des Landtags von Sachsen-Anhalt und Vorstandsmitglied der Linken sowie Co-Vorsitzender von deren Internationaler Kommission. Markus Pohle, Jahrgang 1991, gehört dem Linke-Landesvorstand Sachsen an.

Den Parteiakteuren, die sich für eine europäische Republik einsetzten, ging es um eine grundsätzliche pro-europäische Richtungsentscheidung mit allem, was dazu gehört: einer Vision, einem Weg zu ihrer Umsetzung und dem Organisieren von Mehrheiten für ebenjene. Getragen wurde dieser Aufschlag von einer einfachen Einsicht: Beseitigt man die Europäische Union, beseitigt man noch lange nicht die Politik, die in ihr eine Plattform gefunden hat. In den Änderungsanträgen zum Programm stand zu lesen: »Wie in den Nationalstaaten dominiert auch in der EU eine neoliberale Politik der Konkurrenz und Austerität. Die Dominanz der großen EU-Mitgliedsstaaten, allen voran Deutschland, die diesen Kurs forciert haben, würde durch ein Zerbrechen der EU jedoch nicht verschwinden.« Aus heutiger Perspektive bleibt eher umgekehrt festzuhalten, dass der Neoliberalismus die EU nicht braucht, sondern sich auf der Ebene der Nationalstaaten, wie das Beispiel Großbritannien überzeugend demonstriert, sogar noch besser umsetzen lässt.

Mehr Kompetenzen für die EU?

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In Reaktion auf den russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 verfasste Guerot gemeinsam mit vier weiteren europäischen Intellektuellen einen erneuten Aufruf mit dem Titel »Zeit für die Vereinigten Staaten von Europa«. Darin heißt es: »Wir europäischen Bürger glauben, dass dies die entscheidende Stunde für die EU ist. Daher fordern wir: [...] eine föderale europäische Republik zu errichten, die die Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs-, Steuer- und Energiepolitik einschließt.«

Guerot spricht sich hier für einen massiven Kompetenztransfer von der nationalen auf die europäische Ebene aus. Die Fragen einer europäischen Parlamentsarmee, des europäischen Arbeitsrechts, von Finanzhoheit und vergemeinschafteten Schulden wären klar entschieden. Das europäische Parlament müsste demnach die zentralen Geschäftsbereiche des heutigen Bundestages übernehmen. Sahra Wagenknecht und die ihr in der Linkspartei Nahestehenden und potenziellen Mitglieder einer eigenen Partei standen dem Transfer dieser Kompetenzen auf europäische Ebene in den Auseinandersetzungen in der Linken fast ausnahmslos ablehnend gegenüber.

Der Aufruf von Guerot und anderen konstatiert weiterhin: »Die EU-Mitgliedstaaten geben mehr als doppelt so viel für Verteidigung aus wie Russland, ohne dass sie über eine nennenswerte Abschreckungsfähigkeit verfügen. Eine Anhebung der nationalen Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent wird die Verschwendung nur vergrößern, wenn nicht eine echte Verteidigungsunion geschaffen wird.« Allein Abschreckungsfähigkeit als Argument ins Feld zu führen, dürfte Wagenknecht entschieden zu weit gehen. 2014 nach ihrer Meinung zu Gregor Gysis Vorstoß bezüglich einer europäischen Armee befragt, antwortete Wagenknecht in der »Wirtschaftswoche« ausweichend: »Die EU hat doch längst militärische Einheiten. Und die dienen nicht der Verteidigung, sondern sollen als Interventionstruppen auf anderen Kontinenten eingesetzt werden, etwa um den Zugang zu bestimmten Rohstoffen abzusichern. […] Wir brauchen Abrüstung auf nationaler und auf EU-Ebene.« Innerparteilich sind sie und ihre Anhänger immer bei der Position geblieben, eine europäische Armee grundsätzlich abzulehnen. Im gleichen Interview sprach sie sich gegen Eurobonds und damit gegen vergemeinschaftete Schulden aus.

Unvereinbare Positionen

Es scheint eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, dass Ulrike Guerot mit solchen diametral zu Sahra Wagenknecht entgegengesetzten Positionen eine Kandidatur auf ihrer Wahlliste ausgerechnet für das Europaparlament übernehmen soll. Ganz im Gegensatz zu Guerot betont Wagenknecht immer wieder das Nationale als Bezugspunkt – ein Kapitel ihres Buches »Die Selbstgerechten« trägt die Überschrift »Nationalstaat und Wir-Gefühl: Weshalb eine totgesagte Idee Zukunft hat«. Sahra Wagenknecht argumentiert darin; »Menschen leben in Gemeinschaften und sie brauchen das Miteinander. Das gilt für alle Zeiten und letztlich für alle sozialen Schichten.« Die Organisationsform dieser Gemeinschaften ist für Wagenknecht der Nationalstaat. Seine Genese und Voraussetzungen beschreibt sie wie folgt: »Nationen entstehen durch eine gemeinsame Kultur und Sprache, durch geteilte Werte, gemeinsame Traditionen, Mythen und Erzählungen.« In ihrer Vorstellung sind Nationalstaaten also organisch gewachsen und deshalb der natürliche Ort, an dem wesentliche politische Entscheidungen gefällt werden sollten. Guerot fordert hingegen die Schaffung eines europäischen Nationalstaates, in dem die Wagenknecht’schen Voraussetzungen einer kulturell oder auch nur sprachlich homogenen Bevölkerung offensichtlich alles andere als gegeben sind.

Welche Position könnte eine solche Partei auf dem europäischen Parkett vertreten? Ursula von der Leyen legte das Augenmerk ihrer EU-Kommissionspräsidentschaft bereits 2019 auf die Geopolitik. Sowohl die Coronakrise als auch der russische Krieg gegen die Ukraine sowie die jüngst angekündigte Expansion der BRICS -Gruppe als Ausdruck chinesischen Gestaltungsanspruchs in der Weltpolitik abseits der G20 stellen die EU, die Mitgliedsstaaten und letztendlich die europäischen Bürgerinnen und Bürger vor die Frage, wo man sich entlang der sich immer deutlicher abzeichnenden Konfliktlinien verortet.

Der »große Wurf« der von der Leyen’schen Geopolitik ist eine 2023 vorgelegte, äußerst dürftige China-Strategie nach deren Lektüre man so schlau ist wie zuvor. Will heißen: Geopolitisch steckt die EU in den Kinderschuhen. Die entscheidenden Fragen bleiben bisher ungenügend beantwortet. Wo steht die EU in der US-chinesischen Konfrontation? Welche Abhängigkeiten von globalen Wertschöpfungsketten kann man sich bei den zu erwartenden Disruptionen im internationalen Handelssystem noch erlauben, wo müssen durch einen planenden Staat Importe substituiert werden? Schafft Europa, das schon die letzte industrielle Wende der Tech-Giganten weitestgehend verschlafen hat, ein wirtschaftspolitisches Comeback in der Fertigung und Konzipierung klimaneutraler Alternativen zum fossilen Zeitalter?

Erkennt man im Angesicht dieser Herausforderungen grundsätzlich an, dass es eine handlungsfähige EU braucht, sind die linken Interventionspunkte in die bei Weitem noch nicht ausdiskutierten gesellschaftlichen Debatten kein Hexenwerk: Die EU als Stimme des Völkerrechts und der Menschenrechte in der Außenpolitik statt das Einstimmen in die imperialen Chöre aus den USA, Russland und mit Abstrichen auch aus China. Eine gerechte Handelspolitik, um die Länder des globalen Südens nicht den Autokraten mit den besseren Deals in die Arme zu treiben. Den Beweis antreten, dass demokratische Gesellschaften in der Lage sind, eine Industriepolitik zu betreiben, die die ökologische Transformation erfolgreich gestaltet, statt sie zu verwalten und unter Bürokratiebergen zu begraben.

Diese möglichen Antworten gehen zwingend einer Richtungsentscheidung über die institutionelle Zukunft der EU voraus, die eine mögliche neue Partei unter der Ägide von Sahra Wagenknecht zu treffen hätte. In der Geschichte von EG und EU war der unausgesprochene Konsens unter den demokratisch gewählten Entscheidungsträgern immer, dass Krisen mit weiteren Integrationsschritten beantwortet werden. Ulrike Guerots Argumentation folgt dieser Logik, wenn sie in ihrem jüngsten Buch »Endspiel Europa« in den aktuellen Krisen die Möglichkeit sieht, »Europas überfällige Loslösung von seinen nationalstaatlichen Konturen zu befördern« Wagenknecht gehörte seit jeher zu den Euroskeptikern, sprach sich 2014/15 wiederholt gegen den Euro aus und vertritt bezüglich der institutionellen Verfasstheit eine gegenteilige Auffassung zu einer Republik, deren Herzkammer ein deutlich aufgewertetes europäisches Parlament wäre.

Gegenmodell: Rückkehr an den heimischen Herd

In Guerots Erzählung müsste diese Republik von der europäischen Bevölkerung als einem kollektiv handelnden politischen Subjekt gefordert und geschaffen werden – der Haken daran ist, dass es dieses kollektive politische Subjekt in Wagenknechts Welt überhaupt nicht gibt. Als Alternative zeichnet Wagenknecht in »Die Selbstgerechten« die Konturen eines »Europas souveräner Demokratien«. Ihr Konzept zielt auf eine Kompetenzverlagerung hin zum Europäischen Rat. Dies deckt sich mit früheren Aussagen, etwa dieser von 2016: »Ich finde, die Haushaltspolitik, die Wirtschaftspolitik – das gehört in die Souveränität der Mitgliedsstaaten.« Dies impliziert eine Rückkehr zu beziehungsweise die Stärkung von nationalen Standortpolitiken in den derzeitigen Mitgliedsstaaten statt einer handlungsfähigen EU, die auf europäische Fragen europäische Antworten gibt. Wo Guerot einheitlichen Sozialstandards, Sicherungssystemen, Wirtschaftspolitik und einer kollektiven Außenpolitik das Wort redet, predigt Wagenknecht die Rückkehr zum Nationalstaat in ihrer Auslegung des Brexit-Slogans »Take back Control« (Holt euch die Kontrolle zurück), der für sie das Bedürfnis zum Ausdruck bringt, politische Entscheidungen aus dem fernen Brüssel zurück an den heimischen Herd zu verlagern, weil Demokratie nur da sein könne, wo man eine Sprache spricht und die gleichen Lieder singt.

Mag sein, dass die Positionen von Wagenknecht und Guerot beim Umgang mit der Covid-Pandemie und beim Krieg Russlands gegen die Ukraine sehr nah beieinanderliegen. In den zentralen Fragen zum Verhältnis von EU und Nationalstaat liegen sie meilenweit auseinander. Das scheint jedoch beide Akteurinnen nicht davon abzuhalten, ein gemeinsames Projekt zu den Europawahlen zu organisieren. Ein Projekt, das aufgrund der extremen politischen Differenzen keine europapolitische Strategie entwickeln kann und deshalb weitestgehend handlungsunfähig wäre, letztlich also politisch bedeutungslos. Aber um politische Handlungsfähigkeit geht es offensichtlich nicht. Warum auch, so lange man sich medialer Präsenz sicher sein kann, bei der inhaltliche Widersprüche nicht hinterfragt und thematisiert werden?

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