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Die Stimme verlieren
Vom ersten Lied zur jüngsten Liebe
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.
Mein erstes Lied im Kinderchor ging so: »Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß, wie heimliche Liebe, von der niemand nichts wei-hei-hei-hei-hei-hei-hei-hei-hei-heiß, von der niemand nichts weiß. Keine Rose, keine Nelke kann blühen so schön, wie wenn zwei verliebte Seelen voreinander tun ste-he-he-he-he-he-he-he-he-hen, voreinander tun stehn.«
Ich war damals fünf Jahre alt und eine leidenschaftliche Sängerin. Die Message (auf jeden Fall premature) brannte sich in mein frühkindliches Gedächtnis ein. Noch immer glaube ich an die heimliche Liebe, die vor allem durch ihre Geheimhaltung Relevanz erfährt. Ein Narrativ, das mir das Leben nicht unbedingt leichter macht.
Später kamen dann Romantic Comedies und Vorabendserien dazu, »Verbotene Liebe« hieß eine davon, ich erinnere mich nur noch an die Melodie des Titelsongs, in dem die Line vorkam: »Es wird passie-ie-iern.« Mein größter Kink seitdem ist die verbotene Liebe – mit happy ending, natürlich. Nachdem es dann, wie für Hollywood üblich, erst mal nicht weitergeht. Die Geschichte endet im Ungewissen.
Die Frage nach love languages ist ein aktuell sehr übliches Gesprächsthema, eine Freundin sagte neulich, ihre love language wäre es, für Menschen zu kochen. Meine love language ist die Sprache selbst. Liebesbriefe zu schreiben ist mir ein Hochgenuss – der allerdings, so habe ich gelernt, häufig nicht so gut ankommt.
Mein Chor war der der Musikschule Friedrichshain-Kreuzberg, der damals im Bethanien am Mariannenplatz probte, einem ehemaligen Krankenhaus, dessen Besetzung mit dem »Rauch Haus Song« schon in den 70er Jahren von Ton Steine Scherben besungen wurde. Manchmal durfte ich damals im Kinderchor nicht mitsingen: »Die Stimme mischt sich nicht«, sagte die Chorleiterin dann. Die Chorleiterin war wunderschön, ihr anmutiges Dirigat ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Wenn ich die zarten Hände der Chorleiterin vor meinem inneren Auge sehe, kommt es mir vor, als würde ich nach Hause kommen – das Zuhause liegt in der Bewegung der zierlichen Hände selbst.
Von einer hohen Brücke in der Schweiz aus konnte ich einmal zwei Flüsse sehen, die sich vereinten. Sie hatten extrem unterschiedliche Farben: Der eine türkisblau und schillernd, der andere eher trüb, matschig, graugrün, so wie meine Augenfarbe. Man sagt, es ist lebensgefährlich, genau an der Stelle schwimmen zu gehen, wo die beiden unterschiedlichen Gewässer zusammenfließen.
Eine Stimme kann ebenfalls schillernd sein oder trüb, stumpf, klar, belegt, rau (wie eine Katzenzunge), transparent, opak oder wie ein »Reibeisen« (eine Käsereibe?). Und sie kann sich wie diese beiden Flüsse eben besser mit anderen Stimmen mischen – oder weniger gut.
Die Stimme ist jeden Tag ein bisschen anders. Je nach Stimmung, Alter, Hormonhaushalt, Zyklus wird sie größer, kleiner, höher, tiefer, runder, kantiger, voller, schlanker, hauchiger, dunkler, heller, wärmer oder kälter, transparent oder opak. Man spricht auch von Klangfarben. Sie kann flackern, leuchten oder strahlen, je nachdem. Manchmal ist sie ein »Schwanengesang«, besonders schön, kurz bevor sie der Sängerin abhanden kommt – vor einer Erkältung zum Beispiel oder Knaben kurz vor dem Stimmbruch.
Trotzdem ist und bleibt sie auch spezifisch für einen Menschen unverkennbar. Im Begehren ist die Stimme häufig fast so wichtig wie der Geruch. Es ist sicher kein Zufall, dass man davon spricht, »jemandem eine Stimme zu geben« oder »die Stimme zu erheben« – »having a voice«, »raising the voice«.
Wenn ich nicht mitsingen durfte, weil ich den Klang versaute (»die Stimme mischt sich nicht«), dann schossen mir sofort Tränen in die Augen. Die Zurückweisung hinterließ eine tiefe Spur, ich zuckte zusammen vor Schreck. Das Gefühl war ganz ähnlich wie das Erleben von romantischer Zurückweisung viele Jahre später. Einmal drehte ich mich, als es passierte (vor dem Bauhaus am Hermannplatz) spontan um und rannte, so schnell ich konnte, den ganzen Kottbusser Damm lang nach Hause.
Auch das Lied selbst hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt, bis heute. Gesungene Informationen merkt man sich anders als gesprochene oder geschriebene, sie werden buchstäblich in einem anderen Teil des Gehirns »gelagert«. Erst jetzt weiß ich, worum es sich bei dem Lied handelt: ein schlesisches Schäferlied aus dem 18. Jahrhundert.
Ich lerne: Wenn man eine sehr wichtige Information an eine Generation weit in der Zukunft weitergeben möchte (zum Beispiel Atommüll nicht zu berühren, das heißt, an bestimmten Stellen explizit keine Archäologie zu betreiben), dann macht man es am besten nicht in einer Zeichensprache, sondern singend. Oral history. Ich denke: Romantic comedies fucked up my romanticism. Es wird passie-ie-iern. Aber was denn eigentlich?
Seit zwei Tagen habe ich keine Stimme mehr, ein Freund sagte zuerst noch, ich klinge wie das Krümelmonster und dass meine Stimme nicht zu meinem Gesicht passen würde. Es ist ein interessanter Zustand, ich fühle mich, als hätte ich meine Autorität verloren, eine Täuschung. Ich hoffe nur, dass sie zurückkommt – im Internet habe ich mir deshalb einen acht Euro teuren Silikonschlauch gekauft, Gurgeln mit besonders großen Strohhalmen (wie man sie vom Bubble Tea trinken kennt) soll helfen. Da gibt man doch gerne einen Zehner (plus Versandkosten) für einen durchsichtigen Schlauch aus, in der Hoffnung, dass auch die Stimme ihre Transparenz zurückerlangt.
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