»Warum Klasse zählt«: Kein Klassenreduktionismus

Der Klassenbegriff wird oft als unterkomplex zurückgewiesen. Erik Olin Wrights Buch »Warum Klasse zählt« beweist das Gegenteil

  • Lena Reichardt
  • Lesedauer: 6 Min.
Die sozialistische Utopie nicht aufgegeben: Erik Olin Wrights Klassenanalyse hat wissenschaftlichen Anspruch und steht im Dienste der Überwindung des Kapitalismus.
Die sozialistische Utopie nicht aufgegeben: Erik Olin Wrights Klassenanalyse hat wissenschaftlichen Anspruch und steht im Dienste der Überwindung des Kapitalismus.

Derzeit treten die inneren Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaftsformation deutlich hervor. Armuts- und Entsicherungstendenzen prägen die Erfahrungen vieler Menschen, Streikwellen und Riots fordern in Westeuropa den Klassenkompromiss heraus. Dennoch spricht kaum jemand von Klassenkampf und die Vorbehalte bleiben bestehen, die Gesellschaft als das zu bezeichnen, was sie offensichtlich ist: eine Klassengesellschaft.

Hingegen beschäftigte sich der 2019 verstorbene US-amerikanische Soziologe Erik Olin Wright Zeit seines Lebens mit einer sozialwissenschaftlichen Neuformulierung der Klassentheorie und ihrer Potenziale für den sozialen Wandel. Seine marxistischen und klassenanalytischen Arbeiten hinterlassen uns die Möglichkeit, über Klasse im 21. Jahrhundert gesellschaftskritisch nachzudenken. Dies gilt auch für die posthum publizierte deutsche Übersetzung der Abhandlung »Understanding Class. Towards an Integrated Analytical Approach« – erstmals 2009 in der Zeitschrift »New Left Review« erschienen – sowie der Abdruck des Interviews »Why Class Matters« aus dem Magazin »Jacobin«. Beide Texte liegen nun in dem Band »Warum Klasse zählt« vor, zusammen mit einem Nachwort von Oliver Nachtwey.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Entscheidung ohne Alternative

Während der Marxismus in den 70er Jahren, wie Wright über den Beginn seiner Arbeiten zu Klasse schreibt, »für einen seriösen radikalen Gelehrten eine Entscheidung ohne Alternative darstellte«, war dies in den 90er Jahren längst nicht mehr der Fall. Wright aber hielt am Marxismus fest. Für ihn bedeutete dies, den herrschaftskritischen Impetus des Marx’schen Klassenkonzepts nicht aufzugeben sowie die Ausbeutungs- und Herrschaftsmechanismen zu identifizieren, die für emanzipatorische Ideale relevant sind. Denn, so Wright, »der Zweck des Bemühens um ein Verständnis der Klassenstruktur des Kapitalismus besteht darin, die Bedingungen für seine Transformation zu verstehen«.

Mit der Analyse verbunden ist also das Festhalten am Engagement für Klassenemanzipation. Damit richten sich marxistische Kernfragen auf das Wesen des Kapitalismus, seine destruktiven Auswirkungen und Widersprüche sowie die Möglichkeiten seiner Überwindung. Oder, wie Wright es ausdrückt: »Die Gründe dafür, sich auf das Wesen der kapitalistischen Ausbeutung zu konzentrieren, umfassen sowohl die normative Verpflichtung, diese Ausbeutung zu beseitigen als auch die soziologische Verpflichtung, die Bedingungen für die Transformation des Kapitalismus oder die Überwindung des Kapitalismus hin zu einer Alternative zu verstehen.«

Wrights Erkenntnisinteresse lag in diesem Sinne auf der Entwicklung eines Klassenmodells auf der Höhe der Zeit. Damit war der Anspruch des marxistischen Soziologen an eine Klassenanalyse hoch, wie sich eindrücklich in den Texten von »Warum Klasse zählt« nachvollziehen lässt. Während der Aufsatz »Klasse verstehen« nichts weniger als die verdichteten analytischen Grundzüge der Wrightschen Klassenheuristik enthält, gibt das Interview einen Eindruck seines politisch-emphatischen Wissenschaftsverständnisses.

Kombinierte Klassenanalyse

Um das kapitalistische Klassenverhältnis als schädliche soziale Struktur zu verstehen, kombiniert Wright verschiedene klassentheoretische Paradigmen, die jeweils einen Schlüsselmechanismus und ergänzende Aspekte der Klassenstruktur herausstellen, zu einem Mehrebenen-Modell. Damit kann er Klasse als Ergebnis der komplexen Wechselwirkungen verschiedener Mechanismen verstehen, die in den einzelnen Ansätzen identifiziert werden.

Ausbeutungs- und Herrschaftsmechanismen benennen dabei die grundlegende Klassenspaltung in kapitalistischen Gesellschaftsformationen – und sind zugleich, wie Wright anmerkt, »die umstrittenste Art, über Klasse nachzudenken. Die meisten Soziologinnen ignorieren diese Mechanismen, wenn sie über Klasse sprechen, und einige leugnen ausdrücklich ihre Relevanz.« Eine klassische marxistische Kritik an Stratifikationsanalysen, die Gesellschaft anhand von Schichten oder Klassen einteilen, wartet daher mit dem Argument auf, dass Kategorien wie Ausbeutung und Herrschaft ignoriert würden und höchstens von »Benachteiligung« gesprochen werde. So wundert es nicht, dass auch gegenwärtige Sozialstrukturanalysen in erster Linie nicht auf Herrschaftskritik abzielen, sondern auf die differenzierte Beschreibung sozialer Ungleichheit.

Wright greift auf den in dieser Theorietradition stehenden sozialstrukturanalytischen Ansatz individueller Attribute zurück. Von Klasse werde gesprochen, wenn individuelle Eigenschaften – beispielsweise Geschlecht, Ethnie, Bildung, Herkunft – sowie die materiellen Lebensbedingungen von Menschen einen systematischen Zusammenhang erkennen ließen. Klasse werde in diesem analytischen Rahmen lediglich auf einen deskriptiven Ordnungsbegriff reduziert. Statt die individuelle Attribution allerdings ganz zu verwerfen, sieht Wright hier die Möglichkeit, anhand von Klasse über die Verbindung von individuellen Eigenschaften und den materiellen Lebensbedingungen zu sprechen. Er begnügt sich nicht damit, den bloßen Mechanismus zu untersuchen, durch den Menschen in Positionen einsortiert werden, sondern richtet sein Augenmerk kritisch auf die Positionen selbst.

Ausbeutung und Herrschaft als zentrale Achsen der Klassenanalyse anzuerkennen, lenkt den Blick auf die Struktur sozialer Positionen. Im marxistischen Ansatz bestehe die zentrale Klassenspaltung innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft zwischen denjenigen, die die Produktionsmittel besitzen und kontrollieren – den Kapitalist*innen – und denjenigen, die zur Nutzung dieser Produktionsmittel angestellt sind – den Arbeiter*innen.

Die Bedeutung von Macht innerhalb sozialer Strukturen holt Wright in weberianischer Tradition durch den Begriff der sozialen Schließung ein, der auf den Ausschluss von Außenstehenden fokussiert. Der Aspekt der Chancenhortung verdeutliche wie Menschen von (beruflichen) Positionen ausgeschlossen werden und gebe Aufschluss über Ausgrenzungsmechanismen, die Klassenstrukturen prägen. Beispielsweise wird anhand von Bildungstiteln der Zugang zu Berufen eingeschränkt, während der Zugang zu Bildung an soziale Voraussetzungen wie materielle Lebensbedingungen geknüpft ist. Somit identifiziere Chancenhortung den zentralen Mechanismus, der die Arbeitsplätze der Mittelklasse von der breiteren Arbeiter*innenklasse unterscheidet.

Wright setzt die verschiedenen Schlüsselmechanismen der unterschiedlichen klassentheoretischen Paradigmen in Beziehung zueinander und zeigt auf, wie individuelle Eigenschaften den Zugang zu (beruflichen) Positionen beeinflussen und wie Personen diese Positionen verwehrt werden. Der wichtigste Ausschlussmechanismus bleibt allerdings das kapitalistische Privateigentum, das auf die Aneignung der Arbeitsleistung eigentumsloser Lohnarbeiter*innen abzielt.

Streben nach Sozialismus

Zusammengefasst bietet »Klasse verstehen« einen guten Einstieg in verschiedene Paradigmen sowie ihre analytischen Grenzen und Potenziale für die kritische Betrachtung der gegenwärtigen Klassengesellschaft. Vor allem zeigt Wright, dass die Einwände gegen den Klassenbegriff, es handle sich dabei um eine ökonomisch-reduktionistische Kategorie, nicht zutreffen. Auch im Interview »Warum Klasse zählt« vermittelt der Autor eindrücklich die Unumgänglichkeit des Klassenbegriffs für eine kritische Gesellschaftstheorie und -praxis. Der zentrale Zweck der Klassenanalyse ist für Wright die Klärung der Bedingungen zur Überwindung des Kapitalismus und die Errichtung einer sozialistischen Alternative. Dieser Anspruch ist in gängigen Theorien sozialer Ungleichheit nahezu abwesend und verschafft der marxistischen Klassenanalyse damit erneute Geltungskraft.

Oliver Nachtweys Nachwort würdigt Wrights Ansatz als den »wohl ambitioniertesten, umfassendsten und nuanciertesten«, wenn es darum gehe, den Wandel von Klassenstrukturen theoretisch und empirisch zu verstehen. Gleichwohl identifiziert Nachtwey, materialistisch-feministischen Kritiken folgend, eine analytische Lücke, die bereits Karl Marx Kritik der politischen Ökonomie aufweist: Vernachlässigt werde die Frage, wie Sorgearbeiten – das heißt alle Tätigkeiten, die auf die Regeneration und Versorgung von Menschen zielen – mit der Klassenlage zusammenhängen. Dies ist nicht unerheblich, bedenkt man die Veränderung der gegenwärtigen Sozialstruktur, die sich in der steigenden Anzahl von Arbeiter*innen im Dienstleistungssektor und der Ausweitung von Arbeitskämpfen in den Bereichen Gesundheit und Erziehung zeigt.

Erik Olin Wright: Warum Klasse zählt. Suhrkamp, 110 S., br., 16 €.
Lena Reichardt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main und forscht dort unter anderem zu kritischer Gesellschaftstheorie und politischer Ökonomie der Sorgearbeit.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -