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Hessen-Wahl: Das kleinere Übel
Bei Wahlen kann man sich heutzutage nur entscheiden, was man hinterher bereuen will
Sind wir auf ewig dem kleineren Übel verpflichtet? Und ab wann sind die kleineren Übel zu groß, als dass man sich noch guten Gewissens für sie entscheiden könnte? In Hessen wird bald gewählt, und selbst staatlich geprüfte Gewissensforscher könnten kaum beurteilen, welches der vielen hessischen Übel das geringste sei.
Die schwarz-grüne Landesregierung arbeitet seit Jahren unter der Nachweisschwelle. Die Partei eines Roland Koch hat seit in seinen Reinkarnationen Volker Bouffier und Boris Rhein Kreide gefressen, die scharfen Töne fallen nur mehr am Stammtisch – und bei den inoffiziellen Verbrüderungen mit der AfD. Der grüne Juniorpartner ist in der Landespolitik kaum wahrnehmbar – wenn es nicht gerade um den Frankfurter Flughafen geht. Die ostentative Antriebslosigkeit der hessischen Grünen bei der Offenlegung der NSU-Akten und bei der Aufklärung des Attentats von Hanau ist mehr als nur eine peinliche Sprachlosigkeit, es ist aktives Verschweigen. Alle symbolischen Erklärungen zur Diversität müssen vor diesem Thema verblassen.
Für die SPD stellt sich mit Nancy Faeser eine Innenministerin zur Wahl, deren Asyl- und Migrationsgesetzgebung die kühnsten AfD-Träume übertrifft. Tarek Al-Wazir wirbt für die Grünen mit »Öko wie in Ökonomie« und stellt damit im Grunde nur aus, dass ihm beide egal sind. Die Linkspartei befindet sich im freien Fall, die jahrelang liegengebliebene Personalie Wagenknecht und das allgemeine Sektierer*innentum werden die Partei noch lange beschäftigen und an die Fünf-Prozent-Hürde fesseln – man weiß nicht mehr, ob Die Linke schon eine der »sonstigen« Parteien ist, ob die Stimme für Die Linke nicht schon für die Tonne ist.
Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der aufgeregten Öffentlichkeit nützliche Vorschläge und entsorgt den liegen gelassenen Politikmüll. Alle Texte auf dasnd.de/vernunft.
Natürlich muss man wählen; das bisschen Souveränität, dass der Herrschaft abgetrotzt wurde, soll ja auch ausgeübt werden. Aber linke Wähler haben es jedes Mal ein bisschen schwerer. Die Dynamik ist doch die: Die Ultrarechten geben die Themen vor, die anderen Parteien reagieren, akkommodieren, versuchen, deren Stimmen abzugreifen – und werden dabei selbst immer rechter. Was nützt es, linkestmöglich zu wählen, wenn sich das ganze Parteiensystem immer weiter nach rechts bewegt? Die Asylpolitik der SPD 2023 ist die der NPD 1996: Kriminelle Ausländer*innen abschieben war mal eine rechtsextreme Position, heute ist sie Mitte. Die Positionen der Linken 2023 sind die der SPD 1986, die der Grünen heute die der FDP von 2006.
Ein Ausbruch aus diesem System scheint schwer vorstellbar; niemand stellt das rechte Agenda-Setting in Frage. Besonders in der Linken scheint der Wille, seinen Gramsci zu lesen, kulturelle Hegemonie herzustellen, so schwach wie nie. Während die AfD und ihre Influencer*innen Tiktok mit Videos fluten und so bei den Erstwähler*innen abräumen, setzen die anderen auf Bockwurststände am Dorfmarkt. In der hessischen Provinz grüßen auf jedem Acker riesige AfD-Plakatflächen, während die Grünen Kaffeekränzchen veranstalten. Es fehlt ja schon am schlichten Willen zur Macht.
Will man das Allerschlimmste verhindern, muss man neuerdings diejenigen empfehlen, die nur um wenige Zentimeter Zweitschlimmste geworden sind; muss man Wahlkampf für diejenigen machen, die sich eigentlich schon aufgegeben haben. Die Frustration der amerikanischen Linken, die schweren Herzens Biden empfehlen musste, um Trump zu verhindern, ist längst globalisiert. Wählen geht nicht mehr, Nicht-Wählen auch nicht – man kann sich nur entscheiden, was man hinterher bereuen will.
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