Wohlfahrt am Limit

Die Arbeiterwohlfahrt warnt vor zunehmender Armut, auch durch die Kürzungspläne der Bundesregierung

Armut und Einsamkeit unter Kindern, Jugendlichen und Älteren nehmen zu. Das berichtete Kathrin Sonnenholzner am Donnerstag vor dem Hintergrund einer Befragung der Arbeiterwohlfahrt unter ihren Mitarbeiter*innen. Die ausgebildete Ärztin ist Bundesvorsitzende des Verbands und war bis 2018 Bayerische Landtagsabgeordnete für die SPD. »Der Beratungs- und Hilfebedarf steigt enorm«, mahnte Sonnenholzner mit Blick auf die ökonomischen und sozialen Folgen der Corona-Pandemie und die weiterhin hohen Inflationszahlen. »In diesem Jahr waren schon doppelt so viele Menschen, die in Arbeit sind, bei der Schuldnerberatung als im Jahr vorher«, warnte sie.

»Es gibt Quartiere, in denen bis zu 80 Prozent der Bewohner im Jahr weniger als 18 000 Euro verdienen«, ergänzte der Co-Vorsitzende des Verbands, Michael Groß. Gemeinsam mit Sonnenholzner war er im Sommer durch die Bundesrepublik gereist, um sich über die soziale Lage vor Ort zu informieren. Die sei schon vor dem geplanten Sparhaushalt der Regierungskoalition angespannt gewesen, erklärte er am Donnerstag. Die Kürzungspläne der Bundesregierung würden die Situation aber weiter zuspitzen. »Und die Menschen werden damit alleingelassen. Das kritisieren wir als brenzliche Lage«, hieß es auf nd-Anfrage aus dem Bundesvorstand.

Auch vor diesem Hintergrund hat die Arbeiterwohlfahrt unter dem Motto »Die Letzte macht das Licht aus« eine Kampagne gegen die Kürzungspläne der Bundesregierung lanciert. Kritisiert wird vor allem, dass der aktuelle Haushaltsentwurf der Koalition vorsieht, den Bundeszuschuss in der Pflege von rund einer Milliarde Euro bis 2027 zu streichen. »Die Bundesregierung provoziert den Kollaps der Pflegeversicherung und gefährdet die Versorgung von Millionen pflegebedürftiger Menschen«, warnte der Verband.

Aus Sicht der AWO würden davon in erster Linie Arbeiterinnen getroffen, da sie meist die Pflege von Familienangehörigen übernehmen. »Viele von ihnen gehen parallel zur Pflege einer Erwerbsarbeit nach, einige haben Kinder«, heißt es in einer Mitteilung zur Kampagne. Darum reduzieren Frauen häufig ihre Arbeitszeit oder steigen ganz aus dem Erwerbsleben. Das geht auch aus einer aktuellen Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hervor. Dadurch sind Arbeiterinnen einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt – vor allem im Alter.

Gleichzeitig sehen sich die Wohlfahrtsverbände in Deutschland immer weniger imstande, die Probleme abzufedern. »Wir können die Kürzungen nicht auffangen«, unterstrich AWO-Vorsitzender Groß die schwierige Lage. »Die Infrastruktur ist gefährdet.« Mit den Plänen der Regierung könnten rund 25 bis 30 Prozent der aktuell verfügbaren Finanzmittel wegbrechen, schätzt er. Über alle Träger hinweg gehe es um einen Fehlbetrag von insgesamt 225 Millionen Euro, mahnte er. »Man nutzt unsere Arbeit, um Einsparungen vorzunehmen. Das kritisieren wir aufs Äußerste.«

Weil die AWO-Strukturen sich nicht aus eigener Kraft halten könnten, werde man voraussichtlich beim Personal einsparen müssen. Die der Sozialdemokratie nahestehende Arbeiterwohlfahrt ist einer der größten Verbände in Deutschland und hat nach eigenen Angaben über 240 000 hauptamtliche Mitarbeiter*innen. Schon jetzt sorgten die stark angestiegenen Inflationsraten und die höheren Tarifabschlüsse für Finanzierungslücken. So musste etwa der Bezirksverband der AWO in Ostwestfalen-Lippe Anfang Oktober Insolvenz beantragen. Eine Anfrage zu den genauen Gründen blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

Durch den jetzt schon bestehenden Personalmangel kann immer weniger Arbeit vor Ort geleistet werden. Insbesondere in Quartieren, die strukturell und finanziell benachteiligt sind, aber auch im ländlichen Raum sorgt das aus Sicht des Verbands für Probleme. »Dort lebt die Armut meist hinter den Türen und die Menschen suchen sich zu spät Hilfe«, erklärte Groß. Es brauche darum insgesamt mehr Unterstützung für Menschen, die Schwierigkeiten beim Zugang zu Ausbildung und zum Arbeitsmarkt haben.

In den Städten betreffe dies Viertel, in denen viele Menschen mit Migrationshintergrund lebten, warnte zudem Hatice Erdem, Regionalleiterin des Verbands in Schleswig-Holstein. Das habe dramatische Folgen für die Teilhabe von Geflüchteten und Migrant*innen am gesellschaftlichen Leben. Erdem forderte darum vor dem Hintergrund des drohenden Fachkräftemangels, von dem auch die AWO betroffen sei, Investitionen in Integrations- und Sprachkurse sowie flächendeckende Angebote in der Migrationsberatung und in der Asylverfahrensberatung.

Doch es reiche nicht, die geplanten Kürzungen zu kritisieren. »Der Haushalt muss aufgestockt werden«, forderten die Verbandsvorsitzenden. Finanziert werden sollen die Maßnahmen unter anderem durch eine Besteuerung von höheren Einkommen, erklärte Kathrin Sonnenholzner. Der Verband führe darum Gespräche mit Bundestagsabgeordneten. Konkrete Vorschläge zur Höhe der Steuer machte sie aber nicht.

Die Bundesregierung begründet ihren Kurs damit, dass sie sparen und die Schuldenbremse einhalten will. Mit Blick auf die Sondervermögen, mit denen etwa die Bundeswehr aufgerüstet werden soll, sprachen die anwesenden AWO-Vertreter*innen dagegen von »Widersprüchen im Bundeshaushalt«. Die Haushaltspläne der Regierung werden aktuell vom Bundesrat beraten. Auch die Länderkammer kritisiert, dass die Regierung plant, die Pflegefinanzierung von einer Milliarde Euro bis 2027 zu kürzen und fordert, zumindest diese Pläne rückgängig zu machen.

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