Armuts-Epidemie bei Ladendiebstählen

In Großbritannien hat »Shoplifting« stark zugenommen. Babyprodukte sind besonders begehrt

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 4 Min.

Noch verläuft alles regelkonform im Discounter in Catford, Süd-London. Es ist gegen neun Uhr an einem Dienstagmorgen, nur eine Kundin steht in den Gängen des Ladens und begutachtet eine Dose Kichererbsen. Aber der Angestellte hinter der Kasse schätzt, dass der erste Diebstahl nicht lange auf sich warten lassen wird.

»Sie kommen jeden Tag. Es sind meist Gruppen von mehreren Leuten, die so tun, als kennen sie sich nicht«, sagt der Mann Anfang 20, der seinen Namen nicht nennen will. Shampoo und Rasiergel seien beliebte Diebstahl-Artikel, genauso Milchnahrung. Der Discounter hat kein Sicherheitspersonal, und so steht den Dieben meist niemand im Weg. Der Angestellte berichtet von einem Kunden, der ein Messer bei sich hatte: »Ich rief meinen Chef an, aber bis er kam, war der Typ schon lange weg mit dem gestohlenen Kram.« Natürlich habe er ihn nicht zu stoppen versucht.

Solche Geschichten hört man derzeit vielerorts. Die Zahl der Ladendiebstähle ist im vergangenen Jahr drastisch gestiegen. Sharon White, die Vorsitzende der Warenhaus-Kette John Lewis, sagte kürzlich, es sei zu einer regelrechten »Epidemie« ausgeartet. In den zwölf Monaten bis März 2023, so zeigen Statistiken, nahm die Zahl der Ladendiebstähle in England und Wales um 24 Prozent zu – und seither ist »Shoplifting« laut Branchenvertretern noch häufiger geworden. Die Supermarktkette Co-op meldete im Juni, dass es noch nie so viele Diebstähle und Fälle von Aggression gegenüber Angestellten gegeben habe wie im ersten Halbjahr 2023. Insgesamt habe der Konzern dadurch 33 Millionen Pfund verloren.

Vor wenigen Tagen schrieben die Bosse von 88 Einzelhändlern einen Brief an die Regierung, in dem sie härtere Strafen für Ladendiebe fordern. Zu den Unterzeichnern gehören die Chefs des Modehändlers Primark und der Drogeriekette Superdrug. Ferner heißt es in dem Schreiben, es solle einen separaten Straftatbestand für Übergriffe gegen Ladenpersonal geben.

Wie skrupellos die Täter zuweilen vorgehen, ist auf Überwachungskameras dokumentiert. In einem Fall ist zu sehen, wie eine Gruppe von etwa zwei Dutzend jungen Leuten in der Region der Midlands einen Laden stürmen wollen, während das Sicherheitspersonal versucht, die Schiebetür von Hand zuzuhalten. Ein Sprecher von Co-op spricht von »organisierter Plünderung«.

Dass Banden teilweise für die Welle der Diebstähle verantwortlich sind, bestätigte Emmeline Taylor, Professorin für Kriminologie an der Londoner City University, gegenüber dem Magazin »The Economist«. Zuweilen erhalten die Täter von kriminellen Gangs einen »Einkaufszettel« mit den gewünschten Produkten. Beliebt seien Alkohol, Babyprodukte und Fleisch.

Aber Experten verweisen auf eine weitere Ursache: wachsende Armut. Die hohen Energiekosten und die rapide gestiegenen Preise für Alltagsprodukte – bei Nahrungsmitteln kletterte die Inflation im Frühjahr auf 19 Prozent – haben viele Haushalte in schwere finanzielle Probleme gestürzt.

Im August warnte die Armutskampagne Buttle UK, dass die ärmsten Familien in Großbritannien im vergangenen Jahr einen Kollaps ihres Lebensstandards erlebt hätten. Sie stützt sich auf eine Umfrage unter Mitarbeitern von zahlreichen Sozialstiftungen, die benachteiligten Menschen helfen. »Wir sprechen hier nicht nur von großer Not, sondern auch von lebensverändernder und lebensverkürzender tiefer Armut«, schrieb Buttle UK.

Diese Notlage sei mitverantwortlich für die Diebstähle, sagt Laurence Guinness, Vorsitzender der Kinderarmutsstiftung Childhood Trust, im Magazin »Big Issue«. »Ich habe mit vielen Kindern gesprochen, manche gerade mal sieben Jahre alt, die Lebensmittel gestohlen haben, weil sie hungrig waren«, so Guinness. »Ein junger Mann von 15 Jahren sagte mir, er stehle Babynahrung für seine kleine Schwester.«

Zum selben Schluss kam die Lokalbehörde von Tower Hamlets. In dem Gemeindebezirk im Osten Londons, in dem die Hälfte der Kinder in Armut lebt, stellten die Autoren eines Berichts über Nahrungsmittelarmut im Frühjahr einen starken Anstieg von Ladendiebstählen fest. Insbesondere lassen Kunden Babyprodukte mitgehen – am meisten gestohlen wird Paracetamol für Kinder. Die Autoren halten fest: »Verzweiflung hat zu einem Anstieg der Ladendiebstähle geführt.«

Viele Einzelhändler haben mehr Überwachungskameras installiert oder Sicherheitspersonal eingestellt. In manchen Läden werden bestimmte Produkte, etwa Fleisch oder Käse, mit Sicherungsetiketten versehen. Die Supermarktketten Waitrose und John Lewis haben zudem angefangen, uniformierten Polizisten gratis Kaffee und Tee anzubieten – so sollen die Ordnungshüter ermutigt werden, öfter mal vorbeizuschauen und potenzielle Ladendiebe abzuschrecken.

Im Billigdiscounter in Catford hingegen habe der Konzern darauf verzichtet, entweder einen Sicherheitsmann oder mehr Personal einzustellen, erzählt der Kassierer. So stellt er sich auf einen weiteren Tag der Diebstähle ein.

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