Protokolle aus Odessa

Vier Ukrainerinnen und Ukrainer erzählen vom Alltag im Krieg, von Flucht und Vertreibung und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft

  • Paul Christoph Gäbler
  • Lesedauer: 11 Min.

Enger zusammengerückt

Nastya (20), Künstlername »Okolitsa«, ist Straßenmusikerin und studiert Wirtschaft.

Das Gitarrespiel habe ich mir vor drei Jahren selbst beigebracht. Mehr oder weniger aus Versehen habe ich dann mit ein paar Mitschülerinnen eine Frauenband gegründet, die eine Gitarristin gebraucht haben. Wirklich Spaß gemacht hat das aber nicht. In einer Band muss man sich ständig mit allen anderen absprechen, jeder will noch seinen Senf dazugeben. Davon war ich irgendwann so genervt, dass ich mich entschieden habe, solo weiterzumachen. Mein großes Vorbild ist Lana del Rey. Was für eine tolle Sängerin! Und so eine beeindruckende Frau.

Ich finde, die beste Art, kreativ zusammenzuarbeiten, ist zu zweit: aktuell ich und mein Produzent. Ich habe auch schon ein paar eigene Songs veröffentlicht. Das meiste Geld aber verdiene ich mit Straßenmusik. Um meine Eltern ein wenig zu beruhigen, habe ich gleichzeitig angefangen, Wirtschaft zu studieren – aber ehrlicherweise auch deshalb, weil mir nichts Besseres eingefallen ist.

Straßenmusikerin Nastya, Künstlername »Okolitsa«
Straßenmusikerin Nastya, Künstlername »Okolitsa«

Mein Künstlername Okolitsa bedeutet auf Ukrainisch Nachbarschaft. Seit dieser Krieg begonnen hat, ist der Wert einer funktionierenden Nachbarschaft ja besonders wichtig geworden. Wenn der Strom ausfällt, kein Wasser mehr aus den Leitungen kommt, dann sind wir aufeinander angewiesen. Vielleicht ist eines der wenigen positiven Dinge an diesem Krieg, wie eng wir zusammengerückt sind.

Als es losging, bin ich mit meiner Mutter und meinem kleinen Bruder nach Moldawien geflohen, das sind nur etwa 150 Kilometer von Odessa. Drei Monate haben wir da ausgeharrt und ich habe mich schrecklich gelangweilt. In der Zwischenzeit sind viele meiner Freunde noch weiter geflohen, die meisten innerhalb Europas, einer ist jetzt in Kanada. Irgendwann, als die Lage sich wieder etwas beruhigt hat, sind wir zurückgekehrt. Bis vor einigen Wochen war es auch weitestgehend friedlich hier – bis zu der Nacht, wo die Rakete in die Kathedrale eingeschlagen ist. Ich wohne ein paar Kilometer entfernt, aber der Knall war so laut, dass ich mir zunächst ganz sicher war, die Rakete wäre bei mir in der Nachbarschaft runtergegangen.

Wenn ich hier in Odessa auftrete, gibt es zwei Songs, die besonders gut ankommen und die ich auch gerne spiele. Beide sind in den letzten zehn Jahren entstanden und hier sehr bekannt. Der eine heißt übersetzt »Umarme mich« und handelt vom Ende des Krieges und wie sich die Paare wieder in die Arme nehmen können.

Der andere heißt »Ich habe kein Zuhause«, ein Lied über die Vertriebenen aus den Ostgebieten des Landes. Manchmal, wenn ich diese Lieder spiele, haben Leute angefangen zu weinen. Das ist dann immer schön und traurig zugleich. Aber es rührt mich, wenn ich den Leuten etwas zurückgeben kann. Viele bedanken sich auch dafür, dass ich auf Ukrainisch singe.

Ich glaube nicht, dass dieser Krieg schnell vorbeigehen wird. Inzwischen kann ich mich ehrlicherweise nicht mehr daran erinnern, wie sich Frieden überhaupt anfühlt oder wie es ist, in Sicherheit zu sein. Ich fühle mich oft leer, ausgelaugt, hoffnungslos. Manchmal bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich überhaupt noch etwas fühle.

Nur dieses eine Leben

Karina Beigelzimer (46) arbeitet als Deutschlehrerin und freie Journalistin.

Das war die schlimmste Zeit meines Lebens. Sieben Tage hintereinander hat uns Russland beschossen. Mitte Juli haben sie das Getreideabkommen aufgekündigt. Bis dahin hatten wir, von den ersten Kriegsmonaten abgesehen, so etwas wie eine gefühlte Sicherheit, aber das ist jetzt erstmal vorbei. Die ganze Zeit hörten wir das Zischen und Fauchen der russischen Raketen, in meiner Wohnung haben die Wände gewackelt. Ich glaube, niemand in dieser Stadt hat ein Auge zubekommen.

Eines Nachts dann gab es einen sehr lauten Knall: Eine Rakete war in der Verklärungskathedrale eingeschlagen, hatte den Altar zerstört und die Fassade beschädigt. Schon das zweite Mal in der Geschichte wird die Kathedrale von einem russischen Diktator angegriffen. Immerhin: Seit dieser schrecklichen Nacht ist es wieder ruhig geworden. Aber nach eineinhalb Jahren Krieg wissen wir, dass sich das schnell ändern kann.

Ich arbeite hier als Deutschlehrerin, habe aber selber nie in Deutschland gewohnt. Nebenher arbeite ich auch noch als freie Journalistin, unter anderem für den Deutschlandfunk. Wer hier im öffentlichen Dienst tätig ist, verdient wirklich wenig. Um über die Runden zu kommen, hat deshalb fast jeder hier eine Nebeneinkunft – zumal das Leben seit Beginn der Invasion fast doppelt so teuer geworden ist. Ich habe eine kranke Mutter zuhause, die sehr teure Medikamente benötigt. Diese ganzen Alltagsprobleme gehen ja trotz des Krieges weiter.

Karina Beigelzimer, Deutschlehrerin und freie Journalistin
Karina Beigelzimer, Deutschlehrerin und freie Journalistin

Die Luftalarme sind inzwischen Teil unseres Lebens geworden. Ich weiß, das kann man sich in Deutschland immer schwer vorstellen, aber irgendwann verliert man das Gefühl für diese ständige Bedrohung. Ich hab eben nur dieses eine Leben und werde mich doch jetzt, nach zwei Jahren Corona, ganz sicher nicht schon wieder in meiner Wohnung einschließen.

Außerdem kriegen wir über Telegram-Gruppen sehr detailliert mit, was da auf uns zukommt. Wenn es Kinschal- oder Oniks-Raketen sind – eines dieser Geschosse, das auch in der Kathedrale eingeschlagen ist – dann weiß ich: Jetzt hast du noch zehn Minuten Zeit, um in den Keller zu gehen.

Odessa war schon immer eine stolze und besondere Stadt, auch die russische Sprache hier hat einige Besonderheiten: Wir verwenden viele jiddische und auch ukrainische Begriffe im Alltag. Seit dem Krieg versuchen viele, sich von der russisch-sowjetischen Vergangenheit zu lösen. Es gibt viele kostenlose Ukrainischkurse, gerade die Jüngeren versuchen inzwischen, mehr Ukrainisch zu sprechen. Auch viele Straßen und öffentliche Gebäude wurden umbenannt.

Aus Russland selbst gibt es leider nahezu keine Solidarität für uns. Bestimmte Widersprüche einfach totzuschweigen hat eine lange Tradition in der russischen Gesellschaft. Ich habe beziehungsweise hatte dort gute Freunde, die mich hier auch besucht haben. Immer haben sie erzählt, wie schön sie die Stadt finden. Jetzt bombardieren sie uns.

Kritik oder Auflehnen gegen die Obrigkeit wird in Russland hart sanktioniert. Die meisten halten also die Klappe, ein paar wenige lassen zumindest durchscheinen, dass sie diesen Krieg ablehnen. Aber etliche erzählen einfach das nach, was sie im Fernsehen sehen: Die Ukraine müsse von Nazis befreit werden.

Noch bis 2014 war eine Mehrheit in der Stadt eher pro-russisch eingestellt. Aktuell sind es laut einer Umfrage gerade mal fünf bis zehn Prozent. Das wird wohl der größte Treppenwitz in der russischen Geschichte sein: dass Putin mit dem Plan, die Ukraine zu russifizieren, das komplette Gegenteil erreicht hat.

Für die Alten am härtesten

Nadezda (77) bekommt weniger als 100 Euro Rente und wünscht sich, dass der Krieg bald aufhört.

Als ich 1946 in Odessa geboren wurde, war das noch eine andere Welt. Der Zweite Weltkrieg war gerade vorbei. Mein Vater, der aus Russland kommt, hatte sich hier niedergelassen. Als die UdSSR sich 1989 aufgelöst hat, war ich zunächst dagegen. Plötzlich war alles anders, das hat mich beunruhigt. Ich habe mich aber schon immer, auch davor, als Ukrainerin gefühlt. Das hat sich bis heute nicht geändert.

Ich habe als Schneiderin angefangen, später bin ich ins Frisörhandwerk gewechselt. Bis vor ein paar Jahren habe ich noch gearbeitet, aber irgendwann ging das natürlich nicht mehr. Die Rente, die ich hier bekomme, ist sehr gering: 3800 Hrywnja kriege ich hier jeden Monat überwiesen. Das sind umgerechnet nicht mal hundert Euro. Jetzt ist Monatsanfang, ich komme gerade von der Apotheke, wo ich ein paar Medikamente gekauft habe. In zwei Wochen wird das Geld schon wieder alle sein. Etwas leisten – mal essen gehen oder so – kann ich mir nicht.

Mein Mann ist vor ein paar Jahren gestorben. Aktuell wohne ich mit meinem Sohn und meiner Enkelin zusammen. Mein Sohn unterstützt mich finanziell, so gut er kann. Aber er verdient selbst nicht viel. Vor dem Krieg ist er Seemann gewesen. Mit der Blockade durch die russischen Kriegsschiffe musste er den Job wechseln und arbeitet stattdessen in einer Fabrik.

Rentnerin Nadezda
Rentnerin Nadezda

Meine beiden anderen Kinder sind mit ihren Familien nach Kanada und in die Niederlande geflohen. Auf meine jüngste Enkelin habe ich davor sehr viel aufgepasst, wenn meine Tochter arbeiten war. Jetzt sind sie so weit weg und ich vermisse sie alle schrecklich.

In den letzten Wochen schlugen im Hafen viele Raketen ein. Die Geschosse flogen ganz dicht an meinem Haus vorbei. Ich hatte schreckliche Angst, sowohl um mich als auch um meinen Sohn, der dort in der Nähe arbeitet. Eigentlich habe ich immer Angst, selbst wenn es gerade ruhig ist.

Ich habe mein ganzes Leben hier gewohnt und werde auf jeden Fall bleiben. Was soll ich in einem fremden Land, mit einer anderen Sprache, einer anderen Kultur? Leisten könnte ich mir das eh nicht. Dass Russland uns angreifen würde, konnte ich mir nicht vorstellen. Bis dahin war doch alles in Ordnung. Jetzt hoffe ich einfach nur, dass der Krieg schnell vorbeigeht. Ich kämpfe jeden Tag ums Überleben. Der Krieg hier ist für uns Alten am härtesten.

Abhauen ist keine Option

Mikhail (33) hat 2014 seine Heimat Donezk verlassen und arbeitet als Softwareentwickler.

Mein Plan stand längst fest: Gerade hatte ich in Donezk mein Ingenieurstudium beendet und wollte dort für eines der Bergbauunternehmen arbeiten. Mein Vater hatte über Tage für eine der Minen geschuftet. Ich sollte es mal besser haben als er, hatte er mir und meiner Mutter versprochen, die inzwischen verstorben ist. Meine Wohnung hatte ich abbezahlt, alles war gut. Dann ging es los.

Im April 2014 haben russische Separatisten Donezk eingenommen. Die Stadt war einfach über Nacht überrannt worden. Ich hatte fest damit gerechnet, dass es eine ukrainische Gegenoffensive geben würde. Als die ausblieb, bin ich ein paar Monate später geflohen. Ich war damals wie viele meiner Freunde, ebenso mein Vater, zwiegespalten: Ich konnte den Frust über die Situation in der Ukraine verstehen: über die Korruption, die Verlogenheit der Regierung. Aber mit Putin und seinem totalitären Staat wollte ich nichts zu tun haben.

Das Verhältnis zu meinem Vater, der in Donezk geblieben ist, war dadurch lange ziemlich schwierig. Er identifiziert sich klar als Ukrainer, hatte es damals sogar abgelehnt, einen russischen Pass zu beantragen. Aber er ist eben noch in der Sowjetrepublik aufgewachsen, hat also noch eine ganz andere Welt erlebt. Das abzulegen braucht seine Zeit.

Seitdem wohne ich in Odessa und habe mich beruflich umorientiert. Seit einigen Jahren arbeite ich für eine norwegische Softwarefirma. Ich verdiene gut, habe mir ein schönes Haus im Grünen gekauft – aus Holz, das hab ich mir bei meinen Besuchen in Norwegen abgeguckt. Ich habe meine Freundin kennengelernt, sie ist Schlagzeugerin und fährt auch immer wieder ins Ausland zu Auftritten. So auch im Februar 2022. Gerade hatte ich die letzte Rate für mein Haus überwiesen und meine Wärmepumpe aus Deutschland installiert. Da kam es, wie es kommen musste: Die Russen haben uns schon wieder angegriffen.

Softwareentwickler Mikhail
Softwareentwickler Mikhail

Meine Freundin war gerade in Nizza, mein Vater weiterhin in Donezk und ich ganz allein. Es war vermutlich die schlimmste Zeit meines Lebens. Aus den Telefonaten, die ich in der Zeit mit meinem Vater geführt habe, konnte ich heraushören, dass das positive Bild, welches er von Putin hatte, tiefe Risse bekam. Der Krieg war jetzt Teil seines Alltags. Freunde wurden getötet, die Luftangriffe immer heftiger. Irgendwann hatte ich ihn dann so weit, dass er zu mir kommen wollte.

Also habe ich über das Internet einen Fluchthelfer engagiert. Meinen Vater haben sie in einen klapprigen Reisebus gesetzt und los ging die Fahrt, zunächst über die russische Grenze nach Rostow am Don, dann weiter über Lettland und Litauen nach Polen und schließlich über die Grenze in die Ukraine. 56 Stunden hat die ganze Fahrt gedauert, nahezu ohne Pausen. Nicht einfach für einen alten Mann, der auch nicht mehr bei bester Gesundheit ist.

Jetzt, wo er hier ist, haben wir nicht mehr so viele Streitigkeiten. Manchmal erwische ich ihn dabei, wie er wieder in irgendwelchen komischen Telegram-Gruppen unterwegs ist. Dann lösche ich auf seinem Handy diese ganzen Propaganda-Kanäle. Das mag er natürlich nicht. Aber wie viele ältere Menschen ist er, was das Internet angeht, eben noch ziemlich naiv. Wenn er ein gut produziertes Video sieht, hält er es erstmal für echt. Die russische Propaganda arbeitet da sehr perfide.

Der Krieg, die Luftalarme werden erstmal bleiben. Das Leben zu genießen, fällt mir schwer. An den Strand gehen, Party machen – das kann ich gerade nicht. Wenn der Alarm losgeht, ziehen wir uns mit den Katzen in den Keller zurück. Ich hab mir geschworen: Ich haue nie wieder vor den Russen ab. Wenn notwendig, verteidige ich mein Land auch mit der Waffe in der Hand. Lust darauf habe ich aber nicht. Niemand hat das.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.