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Berliner 9-Euro-Ticket: Blechen fürs Bürokratiemonster
Neue Regeln für das Sozialticket machen Fahrten vieler Bedürftiger zum Ordnungsvergehen
Die gute Nachricht zuerst: Das seit 1. Januar auf neun Euro vergünstigte Berlin-Ticket S gilt bis auf Weiteres. Das teilte der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) vergangenen Freitag mit. Ohne diese Entscheidung wäre das Sozialticket für den Tarifbereich AB zum 31. Dezember ausgelaufen. Bevor der ehemalige rot-grün-rote Senat die Vergünstigung einführte, hatte das Ticket 27,50 Euro gekostet.
Neu ist aber auch: Seit dem 1. Oktober ist das Ticket nur noch in Kombination mit der VBB-Kundenkarte Berlin S gültig. Die VBB-Kundenkarte ist ein Teilersatz für den bis Januar gültigen Berlinpass, der zum ermäßigten Nahverkehrsticket und anderen Vergünstigungen für Sozialleistungsempfangende berechtigte. Um die VBB-Kundenkarte zu bekommen, muss sie mit dem Berechtigungsnachweis beantragt werden. Mit ihm bekommt man zudem Zugang zu allen anderen Ermäßigungen jenseits des ÖPNV.
Um das ermäßigte Nahverkehrsticket und alle weiteren vergünstigten Leistungen nutzen zu können, müssen die Leistungsbeziehenden nun nicht mehr nur den Berlinpass, sondern die VBB-Kundenkarte und den Berechtigungsnachweis mitführen. Dabei ist der Berechtigungsnachweis lediglich ein unpraktisches schwarz-weiß bedrucktes A4-Blatt.
Es scheint, als würden die bürokratischen Wirrungen, die genommen werden müssen, bis ein*e Leistungsbezieher*in die VBB-Kundenkarte erhält, die Hürden zum Berlinpass von einst noch übertreffen. Dabei war Bürokratieabbau eine zentrale Motivation für den Wechsel des Systems.
Wer heute eine VBB-Kundenkarte benötigt, muss zunächst einmal warten, bis ein Berechtigungsnachweis im Briefkasten liegt. Erstellt werden diese nicht von den Sachbearbeiter*innen in den Jobcentern, sondern für alle Berechtigten zentral. Versendet werden sie zu festen Stichtagen per Serienbrief »mehrfach im Jahr«, wie eine Sprecherin der Berliner Jobcenter »nd« mitteilte, sodass die Bewilligung von Leistungen und die Ausstellung des Berechtigungsbescheids zeitversetzt erfolgen könnten. Wer kurzfristig einen neuen Berechtigungsnachweis braucht, ist oft aufgeschmissen. Daher haben die Jobcenter eigens dafür eine Clearingstelle eingerichtet. Die Sprecherin der Jobcenter spricht dennoch von einer unverzüglichen Ausstellung, die dank rechtzeitiger Information der »Kund*innen« sichergestellt werden könne.
Hält man dann einmal einen Berechtigungsnachweis in den Händen, muss man selbst per Onlineformular der BVG die Kundenkarte beantragen. Dazu gehört die digitale Übermittlung des nur physisch zugestellten Berechtigungsnachweises, des Personalausweises und eines Fotos. Nach einer Bestätigungsmail soll die VBB-Kundenkarte per Post zugestellt werden. Beide, Berechtigungsnachweis und VBB-Kundenkarte, sind nur für den Zeitraum der Leistungsbewilligung gültig. Nach dessen Ablauf muss das Prozedere wiederholt werden. Nur in Einzelfällen und nach Vorsprache geben die Jobcenter gedruckte Antragsbögen heraus.
Aufgrund von Verzögerungen in der Systemumstellung galt neun Monate lang bis zum 30. September eine Übergangslösung, sodass man sowohl mit dem Berechtigungsnachweis, der VBB-Kundenkarte als auch dem Leistungsbescheid der jeweiligen Behörde unterwegs sein konnte, wenn man das Sozialticket erworben hatte. Eine Notiz auf der Webseite der Senatsverwaltung für Soziales deutet auf die Nachwirkungen der Probleme: »Sollten Sie die VBB-Kundenkarte vor Mitte August beantragt und diese bislang nicht erhalten haben, müssen Sie einen neuen Berechtigungsnachweis beantragen und den Antragsvorgang wiederholen«. Für Probleme nach Mitte August soll man eine E-Mail schreiben.
Die Übergangslösung ist nun ausgelaufen. »Die Gründe für die Verzögerungen wurden mittlerweile weitgehend behoben«, heißt es von der zuständigen Senatsverwaltung für Soziales. Gegenüber »nd« konnte diese jedoch keine Auskunft über die bisherige Abdeckung der VBB-Kundenkarte geben, also wie viele VBB-Kundenkarten den Sozialtickets gegenüberstehen oder wie viele Berechtigte mit Sozialticket, aber ohne Kundenkarte unterwegs sind. Dazu wird auf die Zuständigkeit der BVG verwiesen.
Dort verzeichnet man bis Ende September 215 000 bearbeitete Anträge auf die VBB-Kundenkarte, teilte ein Sprecher dem »nd« mit. Für September seien demgegenüber allein von der BVG 145 000 Sozialtickets ausgestellt worden. Verkäufe von der S-Bahn und anderen Stellen konnte der Sprecher nicht beziffern und waren bis zum Redaktionsschlus nicht zu ermitteln. Inwieweit eine Unterdeckung vorliegt, kann also auch die BVG nicht genau feststellen. Zur Orientierung: 2018 wurden 472 000 Berlinpässe ausgestellt.
Bei der sozialpolitischen Sprecherin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, Katina Schubert, häuften sich die Beschwerden, teilt sie auf »nd«-Anfrage mit. »Die Situation jetzt war durch die vorab aufgetretenen Tarifkomplikationen absehbar. Ich bin daher für die Verlängerung der Übergangsfrist.« Natürlich seien derlei Umstellungen nie ganz reibungslos, sagt Schubert. Auch wenn sie kein Ausmaß der Unterdeckung nennen kann, meint sie, dass der Umstieg erst hätte vollzogen werden dürfen, nachdem eine hohe Abdeckung festgestellt worden wäre. »Die Übergangslösung nicht zu verlängern, bedeutet, die Ärmsten der Armen der Beförderungserschleichung und damit der Ersatzfreiheitsstrafe auszuliefern.« Wer ohne VBB-Kundenkarte erwischt wird, den erwartet eine Strafe von 60 Euro.
Die Erwerbsloseninitiative Basta bietet Beratungen zu Sozialleistungen an. Eine der Berater*innen sagt, dass auch sie Probleme bei der Umstellung beobachte. Sie selbst hätte schon vor einigen Wochen ihren ab Oktober gültigen Leistungsbescheid erhalten. Auf den Berechtigungsnachweis aber warte sie bis heute. Basta hilft auch beim Beantragen der VBB-Kundenkarte.
Auch die Neuköllner Kiezgruppe aus dem Stadtteilladen Lunte beschäftigt sich seit einiger Zeit mit dem Sozialticket. Am Montag hielt die Gruppe spontan eine Versammlung vor der Aufsichtsratssitzung der BVG ab. Einigen Aufsichtsratsmitgliedern wurde ein Dossier übergeben. Als Lösungen werden dort das Wiedereinsetzen der bisherigen Übergangsregelung, die Möglichkeit, die VBB-Kundenkarte vor Ort zu erwerben, eine automatische Verlängerung bei der Weiterbewilligung von Leistungen und mit Verweis auf die Düsseldorfer Rheinbahn der Verzicht auf Anzeigen wegen »angeblicher Erschleichungen« gefordert.
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