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Polen wählt den Wandel
Rekordwahlbeteiligung macht einen Machtwechsel in Warschau wahrscheinlich
Je später es wurde, desto mehr Mützen, Handschuhe und Thermosflaschen mit Tee oder Kaffee kamen bei diesen Parlaments- und Senatswahlen zum Einsatz. Eigentlich hätten um 21 Uhr die Wahllokale ihre Türen geschlossen. Weil zu dem Zeitpunkt vielerorts aber noch viele anstanden, wurden die letzten Stimmzettel spät nachts abgegeben. Auch außerhalb des Landes standen Staatsbürger*innen stundenlang an. Ein Fernsehteam in London berichtete, sieben Minuten gebraucht zu haben, um die Schlange zu passieren.
Das vermittelt einen Eindruck von der Wahlbeteiligung, die in Polen noch nie so hoch gewesen ist. 72,9 Prozent der Wahlberechtigten haben gewählt und übertrumpfen damit die bisherige Rekordbeteiligung, die in den ersten teilweise freien Wahlen des Landes im Jahr 1989 aufgestellt wurde. Damals hatten 62,7 Prozent der Wahlberechtigten gewählt.
Jubel gab es um Punkt 21 Uhr, als die ersten Hochrechnungen kamen. Die Opposition feierte in der Gegenwartsform: »Wir haben gewonnen«, während der Ruf der Regierenden in der Zukunftsform formuliert war: »Wir werden gewinnen.« Bei der Wahlparty der nationalistisch-konservativen PiS (Recht und Gerechtigkeit) feierte die Partei, dass sie zum dritten Mal in Folge die meisten Wähler*innenstimmen auf sich versammeln konnte. Zum Redaktionsschluss liegt die PiS in Hochrechnungen bei 36 Prozent, doch sie verliert ihre absolute Mehrheit. Der einzig mögliche Koalitionspartner ist Konfederacja. Die Partei tritt antisemitisch und rechtspopulistisch auf und kündigte ohnehin an, kein Interesse an einer Koalition mit PiS zu haben. Zudem räumt sie selbst ein Ergebnis von nur sieben Prozent ein.
Zur selben Zeit des PiS-Jubels feierte der Oppositionsführer Donald Tusk mit seiner Bürgerplattform (KO) die Zweitplatzierung. Die Partei steht bei 31,0 Prozentpunkten. Dem privaten Fernsehsender TVN sagte Tusk kurz nach Bekanntgabe der Zahlen, dass er der »glücklichste Mensch der Welt« sei, denn »das ist das Ende der schlimmen Zeit – das Ende der PiS-Herrschaft«. Mögliche – und bereits als solche erklärte – Koalitionspartner sind das konservativ-liberale Wahlbündnis Trzecia Droga (Dritter Weg) und die linke Lewica. Gemeinsam können die Parteien eine Mehrheit im Parlament bilden.
»Diese Wahl ist richtungsweisend«, sagt Dagmara Jajeśniak-Quast auch mit Blick auf die hohe Beteiligung. Die Wirtschaftshistorikerin ist Professorin und Direktorin des Zentrums für Interdisziplinäre Polenstudien an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Sie weiß, dass »vieles auf dem Spiel« steht, denn europaweit ist ein Rechtsruck zu erleben. Da sei es wichtig, wie Polen als eines der größten EU-Mitgliedsländer wählt. Das Ergebnis sei eine »große Hoffnung für den ganzen Kontinent«, meint Jajeśniak-Quast.
Im Club der Tausenden Wähler*innen, die nach 21 Uhr gewählt haben, wusste man sich mit Pizza vom Bringdienst und dicken Jacken zu helfen. Eine Wählerin in Breslau hat um kurz vor drei Uhr die letzte Stimme der Wahl abgegeben. In derselben Warteschlange sagte eine Person dem Fernsehsender TVN, dass sie mehr als sechs Stunden anstehe und eine Decke von einem fremden Helfer geschenkt bekommen habe. Eine andere Wählerin berichtet, dass schon um 21 Uhr die ersten Personen an der Schlange vorbeigegangen seien und zum Durchhalten aufforderten. »Steht weiter an«, hieß es, für die Interviewte sei das selbstverständlich. Schließlich solle sich was ändern.
Die Entscheidung sei eine Abkehr vom Populismus, Polen könne eine »Vorbildfunktion« einnehmen, glaubt Professorin Jajeśniak-Quast. Dem Anti-EU-Narrativ der Regierung sei die Stirn geboten worden und das Land habe gezeigt, wie europäisch es sein will. Für die absolute Mehrheit im Sejm sind 231 Stimmen nötig. Die Oppositionsparteien könnten 248 bekommen, PiS steht bei 196 und die rechtsextreme Konfederacja mit ihren 15 Sitzen könnte nicht zur Mehrheit beitragen. Tusk sagte, er habe sich noch nie in seinem Leben so über den zweiten Platz gefreut. In einer KO-Wahlzentrale in Danzig wurde die sichtbare Freude über die ersten Ergebnisse in einem Video auf X (Twitter) festgehalten. Man reagierte euphorisch, aus reinem Jubel wurde ein kollektiver und aufrichtiger »Jebać PiS«-Ausruf (dt.: Fick die PiS). Aus dem wurde dann der Ruf »Democracja« (dt. Demokratie).
Die PiS hat neben den Wahlen auch ein viel kritisiertes Referendum ins Rennen gebracht. In vier Fragen ging es um das Renteneintrittsalter, Staatsvermögen sowie um Migration. Mit den Suggestivfragen soll die Regierungspartei ihre eigenen Positionen legitimiert haben. Jajeśniak-Quast spricht von einem »Pseudo-Referendum«, die Fragen ließen keine wirkliche Wahl zu und zielten auf Emotionen und Angst ab.
Nun liegt die Teilnahme am Referendum bei 43 Prozent – damit unter den erforderlichen 50 Prozent. Es ist daher nicht bindend. Das zeigt, dass Wähler*innen sich aktiv gegen die Teilnahme an der Befragung ausgesprochen haben müssen und dem Vorhaben bewusst den Rücken gekehrt haben. Und dennoch: Die Regierenden beharren darauf, dass sich eine neue Regierung an den PiS-zugewandten Antworten orientieren müsste.
Noch am Wahlabend bereitete der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński die Regierungspartei vorsichtig auf den Verlust der Macht vor. Gleichzeitig hielt er fest: »Wir werden natürlich alles dafür tun, dass unser Programm trotz allem – trotz dieser Koalition, die gegen uns ist – weiter umgesetzt wird.« Wirtschaftshistorikerin Jajeśniak-Quast meint, dass der Präsident Andrzej Duda dafür entscheidend sein könnte. Er steht der Regierungspartei nahe und könnte Vorhaben einer neuen Politik scheitern lassen. Solange der Präsident im Amt ist, werde die Regierungsarbeit »sehr schwierig oder kaum möglich. Ich hoffe, dass diese Pattsituation zu überstehen ist.«
Den Vortritt bei der Regierungsbildung könnte dennoch PiS als stärkste Partei bekommen. Die könnte auf Zeit spielen und sich ihre Mehrheit im Stillen organisieren. Der Weg zur neuen Regierung könnte so mehrere Wochen dauern. Auch für die endgültigen amtlichen Wahlergebnisse muss Geduld geübt werden.
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