- Politik
- Nahostkonflikt
Abwendung vom Westen
Tunesier kritisieren die Doppelstandards der Europäer
In mehreren Städten der arabischen Welt sind in den letzten Tagen Demonstranten für die Solidarität mit den Palästinensern auf die Straßen gegangen. Nach spontanen Protesten in Amman und Bagdad organisierte am vergangenen Donnerstag die größte tunesische Gewerkschaft UGTT einen Marsch durch Tunis. Am Wochenende folgten große Versammlungen mit mehreren zehntausend Menschen in der marokkanischen Hauptstadt Rabat, in Sanaa in Jemen und in Kairo. Von der Zentrale der UGTT in Tunis gingen Bürger aus allen Gewerkschaftsschichten mit Palästina-Flaggen durch die Stadt und forderten ein Ende der Luftangriffe aus den Gaza-Streifen. Neben Flaggen wurden auch Schals verteilt, auf denen die Al-Aksa-Moschee abgebildet war. Die Räumung der südlich des Tempelbergs in Jerusalem gelegenen heiligen Stätte durch israelische Sicherheitskräfte führte in den letzten Jahren immer wieder zu Empörung in der arabischen Welt.
Nur vereinzelt waren auf dem Protestmarsch Pro-Hamas-Plakate zu sehen. Auf Nachfrage bezeichnen viele Demonstranten die Terrororganisation als notwendiges Übel im Kampf der Palästinenser für ihre Freiheit. »16 Jahre leben die 2,2 Millionen Menschen in Gaza in einem Freiluftgefängnis ohne Perspektive für einen Frieden«, sagt die Studentin Nadschwa Soltani. Sie hält ein selbstgemaltes Plakat hoch, auf dem die Sperrung der Wasser- und Stromlieferungen für Gaza als Kriegsverbrechen bezeichnet wird. Soltani ist wie viele in Tunis in den letzten Jahren immer wieder für die palästinensische Sache auf die Straße gegangen. Doch auch sie sagt wie viele andere, dass die aktuelle Krise eine ganz neue Dimension hat. »Als Netanjahu vor dem UN-Sicherheitsrat eine Karte von Israel ohne jegliche palästinensischen Gebiete gezeigt hat, war mir endgültig klar, dass seine ultrarechte israelische Regierung alle Palästinenser vertreiben will.«
Die Proteste in der Region unterscheiden sich deutlich von den Pro-Palästina-Demonstrationen in Europa. Während die Polizei in Tunis und Kairo Demonstranten oft willkürlich verhaftete und Tränengas einsetzte, um regierungskritische Stimmen zu unterdrücken, sicherten nun maskierte Spezialeinheiten die Umzüge ab. In Tunis waren auch Kritiker von Präsident Kais Saied auf der Straße, denen Gerichte Hausarrest oder das Verbot von öffentlichen Auftritten auferlegt hatten. »Niemand kann mich daran hindern, für die Rechte der Palästinenser auf die Straße zu gehen«, sagte der Rechtsanwalt Ayachi Hammami dem »nd« während des Protestes. Hammami und andere bekannte Aktivisten demonstrierten am Donnerstag, ohne von den Sicherheitskräften angesprochen zu werden.
Auch bekannte Islamisten und LGBTQ+- Aktivisten waren am Donnerstag auf der Straße. »Palästina eint die ansonsten tief gespaltenen Gesellschaften der arabischen Welt«, sagt Mohammad Kadri, ein Ingenieur, der neben einem bärtigen Anhänger der moderaten Islamisten-Partei Ennahda eine Palästina-Flagge schwenkt. Trotz ihrer diametral unterschiedlichen politischen Meinungen diskutieren beide den bevorstehenden israelischen Einmarsch in den Gaza-Streifen. »Uns einen vor allem die Doppelstandards der westlichen Politiker«, sagt der 43-jährige Kadri. »Wieso verurteilt Ursula von der Leyen die russische Bombardierung der Zivilbevölkerung und das Kappen der Wasser, Strom-und Nahrungslieferungen in der Ukraine als Kriegsverbrechen und schweigt zu denselben Taten in Gaza?«
Auf der Demo in Tunis schauen Demonstranten in kleinen Gruppen das Video der EU-Kommissionspräsidentin. Sie diskutieren empört die Verbote deutscher und französischer Behörden, auf Demonstrationen Palästina-Flaggen zu zeigen.
Über den kaltblütigen Mord der Hamas an israelischen Zivilisten ist man sich weniger einig. Die Argumente reichen von Schweigen bis »Jeder Israeli muss in den Militärdienst, daher gibt des keine Zivilisten« oder »Die Kinder sind unschuldig, aber Hamas hat nur auf die Gräueltaten der Siedler im Westjordanland reagiert«.
Wer derzeit öffentlich abwägende Meinungen formuliert, muss vor allem in sozialen Medien Tunesiens mit scharfen Reaktionen rechnen. Präsident Kais Saied fährt seit seinem Putsch im Sommer 2021 einen streng anti-zionistischen Kurs. Im tunesischen Parlament wird ein Gesetz diskutiert, das jegliche Zusammenarbeit mit israelischen Institutionen oder Privatpersonen zur Straftat machen soll. »Ägypten und Marokko haben schon vor langer Zeit pragmatische Ansätze gegenüber Israel gewählt«, sagt der Kioskbesitzer Sohail, der eine politische Talkshow auf Youtube produziert und seinen Nachnamen nicht gedruckt sehen will. »Seitdem die PLO-Führung in ihrem Exil in Tunis 1985 von der israelischen Luftwaffe bombardiert wurde, nimmt Tunesien trotz seiner jüdischen Minderheit immer die radikalste Position gegenüber Israel in der Region ein.«
Auch die Kunden von Sohail sind von Europa schwer enttäuscht. »Wir sehen erstmals live vor unseren Augen, wie Wohn-und Krankenhäuser Ziel israelischer Bomben sind«, sagt einer. »Mit seinem Schweigen dazu zeigt Europa sein wahres Gesicht.«
Ein paar Ecken weiter, auf dem Kreisverkehr des Place Pasteur, kann man auf einer großen Plakatwand sehen, wer die Enttäuschung in der Region über Europa für sich nutzen will. Zeitgleich mit der Demonstration vom letzten Donnerstag startete der russische Staatssender »Russia Today« eine große Werbekampagne für sein arabischsprachiges Programm: »Fordert mehr«, steht auf dem Plakat.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.