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Der Drang nach Freiheit

Christopher Clark, ein Stargast auf der Frankfurter Buchmesse, feiert den Frühling der Revolution 1848

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 5 Min.
Wien in Aufruhr. Gemälde von Franz Barth (1789 – 1853)
Wien in Aufruhr. Gemälde von Franz Barth (1789 – 1853)

Der Musenkuss der Clio ist das Sahnehäubchen. Wenn intensives Quellenstudium möglichst in den Originalsprachen, umfassende Kenntnis der Zusammenhänge, der Blick über den nationalen Tellerrand und Urteilskraft dazukommen, gelingt eine große Geschichtserzählung. Das trifft auf das neue Werk von Christopher Clark zu, hierzulande bekannt geworden mit dem hinsichtlich der Schuldfrage am Ersten Weltkrieg umstrittenen Buch »Schlafwandler« (2012). Jetzt feiert er den »Frühling der Revolution« in Europa, den Aufbruch 1848, nahezu gleichzeitig in fast jedem Land des Kontinents, das heute der EU angehört.

Gab es einen gemeinsamen Plan, haben sich die Revolutionäre gegenseitig inspiriert, oder erwuchs der Veränderungsdrang auf dem Boden vergleichbarer Verhältnisse unabhängig voneinander? Sind all diese Revolutionen, wie in der Literatur üblicherweise zu lesen, »gescheitert«? Oder gingen von ihnen doch Impulse aus, die letztendlich die Welt doch tiefgreifend verändert haben, als zukunftsgestaltend gewertet werden können? Diesen Fragen geht der in Australien geborene, mit einer deutschen Kunsthistorikerin verheiratete Historiker in seiner monumentalen Monografie auf beeindruckende Weise nach.

Clark beweist, dass Historiografie beides verbinden kann: Details wie das einstige Geschehen an der Ecke Friedrich-/Kronenstraße in Berlin oder Debatten im Kaffeehaus in Mailand und Berichte aus zeitgenössischen Zeitungen von Bukarest bis Zürich sowie alles und alle umspannende oder auch die Akteure trennende Ideen und Visionen. Mikro- und Makrogeschichte gehen bei Clark eine geglückte Verbindung ein, erzählt in einer von Forscherlust inspirierten Sprache, die, ohne an Wissenschaftlichkeit zu verlieren, bei der Lektüre nicht nur Erkenntnisgewinn beschert, sondern auch Vergnügen bereitet.

Die Darstellung beginnt mit der Juli-Revolution von 1830 in Frankreich und beschreibt die unterschiedlichen Quellen der wachsenden Unzufriedenheit in den von Aristokraten und Reaktionären registrierten europäischen Staaten, Königreichen und Fürstentümern. Freiheitsrechte, verfassungsmäßig garantiert, waren das Hauptanliegen der Liberalen und Revolutionäre. Ebenso Wahlrechtsreformen, die den Zustand beenden sollten, dass nur ein bis drei Prozent der Bevölkerungen wahlberechtigt waren. Presse- und Versammlungsfreiheit, unabhängige Gerichte, die öffentlich verhandeln, Glaubensfreiheit – überall wurden diese Wünsche artikuliert, überwiegend von den bürgerlichen Eliten.

Darüber hinaus litten die breiten Massen unter sozialem Elend bis hin zu existenzieller Not. Hungerkatastrophen, ausgelöst durch wetterbedingte Missernten oder Ernteausfälle wie durch die Kartoffelfäule, dezimierten vor allem die ländliche Bevölkerung. Aber auch das Leiden des in engen städtischen Quartieren ohne hygienische Grundausstattung zusammengepferchten stark anwachsenden Proletariats war schier unerträglich. Die beginnende Industrialisierung mit gnadenlosen Nebenwirkungen löste Arbeiterrevolten aus, so unter den Seidenwebern in Lyon, später bei den schlesischen Webern. Ohnmächtige Wut entlud sich in Maschinenstürmerei.

In der Schweiz schlugen nachholend zu anderen europäischen Ländern konfessionelle Rivalitäten in Gewalt um. Die liberalen und sozialen Forderungen wurden in Ländern wie Polen, dem von Österreich besetzten Norditalien (Lombardei und Venetien), in Ungarn und Kroatien von nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen überlagert, in Deutschland von zunehmend nationalistischen Einheitsbestrebungen.

Es zeigte sich alsbald, dass die Ziele der Liberalen – Freiheit und Demokratie, inklusive und vor allem Schutz des Eigentums – den in den Revolutionen radikalisierten armen Schichten mit ihren sozialen Anliegen nicht weit genug gingen. Das war der Nährboden, auf dem die Klassenkampftheorien von Karl Marx und Friedrich Engels gedeihen konnten, Ausgangspunkt auch für die berühmte Losung des deutschen Dichters Georg Büchner: »Friede den Hütten, Krieg den Palästen!«

Die Erhebung der Völker und die Reaktion der Machthaber beschreibt Clark wie ein von Schauplatz zu Schauplatz eilender Chronist, teils sehr brutale Konfrontationen nicht aussparend. Er seziert die teils widersprüchlichen Haltungen und Handlungen unterschiedlicher revolutionärer Gruppierungen und die letztlich wider die Vernunft verblüffende Anhänglichkeit der Massen gegenüber den zumeist monarchischen Ordnungen, die sie selbst gerade zum Wanken gebracht hatten.

Dass die Revolutionäre in Wien den verhassten Kanzler Metternich zur Flucht gezwungen hatten, änderte wenig an der Herrschaft der Habsburger, die noch 70 Jahre andauern sollte, bis zur nächsten Revolution 1918. Die Verneigung des preußischen Königs vor den vor dem Berliner Schloss aufgebahrten Leichnamen der Märzgefallenen änderte das undemokratische Wahlrecht und die Verfassungsarmut des Landes nicht. Trotz des Versagens der Abgeordneten in der deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche gab es zwar vereinzelte Fortschritte, vor allem in den südwestdeutschen Staaten, aber im Grunde siegte die Konterrevolution überall auf ganzer Linie.

Dennoch, die Idee der Emanzipation, die Clark voller Empathie ausführt, war nicht mehr auszulöschen. Die Abschaffung des Sklavenhandels wurde immer vehementer gefordert. Ebenso die Gleichstellung der Juden in der Gesellschaft, wenn auch immer noch recht zögerlich. In einigen Staaten kam es zur Aufhebung der Leibeigenschaft. Auch die »Befreiung der Romasklaven« kam zuweilen zur Sprache. Die Gleichberechtigung der Frauen in »einer Welt der Männer« stand nirgendwo auf der revolutionären Agenda, doch sie kündigte sich lautstark an, vorgetragen von selbstbewussten Frauen, vielfach auch von revolutionären Aktionen untermauert.

Auch wenn der Ansatz von Christopher Clark, die revolutionären Ereignisse von 1848/49 vergleichend zu reflektieren, nicht neu ist – erinnert sei an Standardwerke von DDR-Historikern –, so kann sein neues Buch mit Fug und Recht bereits als ein Standardwerk zum Thema bezeichnet werden, an dem keiner vorbeikommt, der sich mit diesem Kapitel Geschichte befasst.

Christopher Clark: Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. A. d. Engl. v. Norbert Juraschitz, Klaus-Dieter Schmidt und Andreas Wirthensohn. DVA, 1164 S., geb., 48 €.

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