Der lila Teppich wirkte dunkelgrau

Kennen Sie den Intervision Song Contest des Ostens? In Leipzig wird an ihn erinnert

  • Lara Wenzel
  • Lesedauer: 4 Min.
Kleidung geschaffen aus der Erinnerung, könnte aber auch die des modernen ESC sein
Kleidung geschaffen aus der Erinnerung, könnte aber auch die des modernen ESC sein

David Hasselhoff brannte sich mit seiner Perfomance von »Looking for Freedom« in der Silvesternacht 1989/90 für immer ins DDR-Wendegedächtnis ein. Fast nichts habe die Mauer so sehr ins Rutschen gebracht wie sein Gesang, ist der Mythos.

Aber bereits 1968, inmitten des Prager Frühlings, überwand die »goldene Stimme« von Karel Gott die Grenzen der politischen Blöcke. Er trat damals nicht nur für Österreich beim Eurovision Song Contest (Westen) an. Auch beim Intervision Song Contest (Osten) begab er sich für die Tschechoslowakei in den Wettbewerb. In Zusammenarbeit mit Dramaturgin Markéta Hrehorová vergrub sich nun das Kollektiv Boys* in Sync in die Rundfunkarchive, um in »InterEuroVision« diesem 1965 in der Tschechoslowakei gegründeten Wettbewerb auf die Spur zu kommen.

Es stellte fest, dass der einstige Rundfunk der ČSSR das ganze Material vernichtet hatte, wurde aber in einem deutschen Archiv fündig. Allerdings durfte es dort die Aufzeichnung des Wettbewerbs von 1968 aus »datenschutzrechtlichen Gründen« nur einmal ansehen. Gemeinsam rekonstruierten nun die Performer*innen, die aus Norwegen, Tschechien, Deutschland, Schweden und Dänemark stammen, den Wettbewerb aus ihrer Erinnerung und versuchen in der Residenz des Leipziger Schauspiels, alles genau zu beschreiben: Die Marge-Simpson-Frisur der ernsten Moderatorin, den lila Teppich, der in der schwarz-weißen Aufnahme nur dunkelgrau wirkte, und das goldene Kleid der finnischen Sängerin. Während sie sich nacheinander mit Kostümen ausstaffieren, klafft die Text-Bild-Schere immer weiter auseinander. Statt Mode der 60er gestaltete Kostüm- und Bühnenbildnerin Johanna Ralser aus zahlreichen Stulpen, Reißverschlüssen und neonfarbenen Highlights eine Athletic Wear, die auch aus einem genialen Eurovision-Auftritt stammen könnte.

Inbrünstig performen die Mitwirkenden die europäischen Schlagerhits, die für den ISC ausgesucht wurden. Zwischen Choreografien und Glitzerhüten unterbrechen die Spieler*innen ihren sichtlichen Spaß am Performen, um dem Publikum eine politische Einordnung zur Intervision zu geben. Die Veranstaltung war Teil der politischen und kulturellen Liberalisierung ab Mitte der 60er Jahre und 1968 auf ihrem künstlerischen Höhepunkt. Erstmals hatten westeuropäische Länder Zutritt zum Format, der Wettbewerb in Karlovy Vary wurde zum ersten paneuropäischen Musik-Contest. Eurovision ließ den Osten zwar zusehen, lud aber keine Künstler*innen aus dem Osten ein.

Mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Vertrags fand sowohl der Prager Frühling als auch Intervision sein abruptes Ende. Auch die Karrieren der Produzenten, der Regie und der Moderation durften nicht fortgesetzt werden. Ähnlich erging es dem kurzen Revival des Wettbewerbs im polnischen Solpot von 1977 bis 1980, das im Zuge der Bekämpfung der Solidarność-Bewegung als »konterrevolutionär« abgesetzt wurde. Wie beim westlichen ESC versteckte sich hinter dem unpolitischen Anstrich auch beim östlichen ISC eine brisante Auseinandersetzung über internationale Beziehungen.

Die aktuellen Diskussionen darüber, ob Israel am ESC teilnehmen solle, und die antisemitischen Anfeindungen gegen die Sängerin Eden Golan 2024 in Malmö verhandelt das Kollektiv nur by proxy. Denn 1968 gewann Spanien unter Franco den ESC mit der Sängerin Massiel. Sie hatte kurzfristig einspringen müssen, da der ursprünglich geplante katalanische Beitrag nicht zur nationalistischen Kulturpolitik der Diktatur passte. Damals habe man in kritischen Kreisen hitzig diskutiert, wie Massiels Auftritt (mit dem Lied »La, la, la«) zu begegnen sei. Sollten die Musiker*innen von ihrer Nation getrennt werden? Reichte es, sich einfach wegzudrehen? Oder müsse der ganze ESC boykottiert werden?

Obwohl sich die Boys* in Sync verschiedentlich ermahnen, dass es hier eigentlich um den Intervision Song Contest gehen soll, bricht ihre Liebe zum ESC immer wieder hervor. Dreimal stimmen sie an diesem Abend den Banger »Euphoria« an, den Siegertitel der Schwedin Loreen von 2012. Sie legen ihn auch Karel Gott in den Mund – und erzählen von ihren Kindheitserinnerungen an das Event. Nur die tschechische Dramaturgin Markéta Hrehorová blieb bei den Proben still, wenn das Team die Choreografien und Hits der vergangenen 30 Jahre anstimmte. Denn dass sich die Tschechische Republik erst 2016 in das Finale vorkämpfte, könnte ein Relikt des langen Ausschlusses von Osteuropa sein. Mit genügend Camp und Glamour gelingt dem Kollektiv so eine unterhaltsame Verhandlung von Musik und Politik, die europäische Vergangenheit und Gegenwart verbindet.

Nächste Vorstellungen: 31.1., 1.2., 4.2., Residenz in der Spinnerei, jeweils 20 Uhr.

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