Präsidentschaftswahlen in Argentinien: Alle schauen auf den Löwen

Der ultrarechte Javier Milei geht als Favorit in die Präsidentschaftswahlen in Argentinien

  • Jürgen Vogt, Buenos Aires
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Hintergrund für die Präsidentschafts- und Kongresswahlen, die am Sonntag in Argentinien stattfinden, ist trist: Die nicht enden wollende wirtschaftliche Rezession, die dreistellige Inflationsrate, die wachsende Armut und der unaufhaltsame Verfall der Landeswährung. Lediglich die Siegesserie der Fußballnationalmannschaft, die seit dem Weltmeistertitel in Katar alle acht Länderspiele ohne ein einziges Gegentor gewann, hebt sich positiv davon ab. 35,4 Millionen Wahlberechtigte sind aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Es herrscht Wahlpflicht.

Drei der fünf Präsidentschaftskandidat*innen haben Chancen auf einen Wahlerfolg: Der selbsterklärte Anarcho-Kapitalist Javier Milei von der libertären La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran), Patricia Bullrich von der rechtsliberalen Oppositionsallianz Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wechsel), sowie Wirtschaftsminister Sergio Massa von der links-progressiven Regierungsallianz Unión por la Patria (Union für das Vaterland).

Wenig wahrscheinlich ist, dass einer von ihnen bereits in der ersten Runde die Wahl gewinnt, bei der es für die Präsidentschaft mehr als 45 Prozent der Stimmen oder mindestens 40 Prozent der Stimmen plus zehn Prozentpunkte Vorsprung bedarf. Spannend ist jedoch, wer es in die mögliche Stichwahl schafft. Bei den Vorwahlen im August hatte der Überraschungssieger Milei lediglich 630 000 Stimmen mehr erhalten als der Dritte Sergio Massa.

Der letzte Auftritt von Javier Milei vor dem Urnengang glich einem Spektakel mit Showeffekten, das inhaltlich nichts Neues brachte. Der 52-jährige Milei, der sich selbst als Löwe und König einer verlorenen Welt stilisiert, kreiste in der Gewissheit, es in die Stichwahl zu schaffen, kreiste lediglich mit stets neuen Sätzen um die Begriffe Freiheit, Marktwirtschaft und dem Recht auf Privateigentum und schimpfte wie gewohnt auf die politische Kaste, die es am Sonntag via Stimmzettel endlich zu vertreiben gelte. Nur keinen Fehler machen, war offensichtlich die Strategie der Veranstaltung in der vollbesetzten Musikarena mit einem überwiegend jungen und männlichen Publikum.

Patricia Bullrich setzte zum Abschluss ihres Wahlkampfes abermals auf die Themen Sicherheit und Kriminalität, versprach mehr Polizei auf den Straßen und dass sie »das Land aus dieser schwierigsten Situation herausführen« werde. Doch so blass wie dieser Satz blieb auch ihr Wahlkampf. Die ehemalige Sicherheitsministerin des Ex-Präsidenten Mauricio Macri konnte kaum jemanden mitreißen. Allerdings präsentierte sie ein kompetentes Schattenkabinett.

Sergio Massa hatte den 17. Oktober, den »Día de la Lealtad« für seine Abschlussveranstaltung gewählt. Am 17. Oktober 1945 waren rund 300 000 Arbeiter und Gewerkschafter zur Unterstützung des inhaftierten Arbeitertribuns Juan Perón auf die Straße gegangen und hatten damit den Grundstein für dessen spätere Präsidentschaft gelegt. Die Peronisten feiern den 17. Oktober jedes Jahr als »Tag der Loyalität«. Dabei waren Präsident Alberto Fernández und Vizepräsidentin Cristina Kirchner die großen Abwesenden an diesem Tag, die noch 2019 im Schulterschluss mit Massa zusammen den Sieg für die peronistische Partei sicherten.

Die Peronistische Partei ist auf der Suche nach einer neuen Führungsriege über den Wahlsonntag hinaus. Fernández ist fast völlig von der Bildfläche verschwunden, seit er im April ankündigte, dass er nicht zur Wiederwahl antreten werde, und Cristina Kirchner hält sich aus dem Wahlkampf heraus. Seit Wochen schwingt Sergio Massa das Zepter, als wäre er der amtierende Präsident. In seiner Rede nannte er weder den Namen des Präsidenten noch den der Vize. Ebenso wenig nahm er das Wort Inflation oder Armut in den Mund. Stattdessen versprach er einen »präsenten und effizienten Staat«, der sozialen Schutz und eine öffentliche Bildung garantiert, ganz im Gegensatz zu Mileis marktradikalen Ankündigungen.

Sollte Milei wider Erwarten nicht in die Stichwahl einziehen, haben ihm die Frauen möglicherweise die entscheidenden Stimmen verwehrt. Die mehr als 60 000 Teilnehmer des Treffens von Frauen, Lesben, Transvestiten, Trans-, bisexuellen, intersexuellen und nicht-binären Menschen in der patagonischen Stadt Bariloche hatten sich am vergangenen Wochenende klar gegen Milei ausgesprochen. »Wir sagen den gefährlichsten Rechten, die regieren wollen, dass wir nicht bereit sind, einen einzigen Schritt zurück zu machen«, hieß es in der Eröffnungserklärung. Auf dem jährlichen Treffen war vor mehr als 15 Jahren der Kampf für das Recht auf einen sicheren und legalen Schwangerschaftsabbruch beschlossen worden.

Milei hat sich klar gegen das Recht auf Abtreibung ausgesprochen und ein Referendum über das bestehende Abtreibungsgesetz versprochen, sollte er die Wahl gewinnen. In Argentinien ist der freiwillige Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche seit 2021 erlaubt. Außerdem kündigte Milei die Abschaffung des Ministeriums für Frauen, Gender und Diversität an.

Vergleiche von Milei mit den Ex-Präsidenten Donald Trump und Jair Bolsonaro zeigen große Unterschiede auf. Zwar behaupten alle drei, Außenseiter gegen das Establishment zu sein, aber ihre Wege nach oben sind äußerst verschieden. Trump hatte sich innerhalb der Republikanischen Partei durchgesetzt und dann die Kontrolle über die Partei übernommen. Als Chef einer internationalen Holdinggesellschaft hatte er zudem Führungserfahrung.

Bolsonaro war lange Zeit Abgeordneter und bekleidete verschiedene öffentliche Ämter. Obwohl er lange kein relevanter politischer Akteur war, gelang es ihm, durch Bündnisse mit anderen politischen Akteuren, den Streitkräften, den Evangelikalen und den großen Agrarproduzenten ins Präsidentenamt zu gelangen. Er ist ein Ziehkind der Medien. Bei Milei findet sich nichts dergleichen. Er hat weder relevante Parteibündnisse noch militärische oder religiöse Unterstützer. Ganz im Gegenteil. Seit Wochen liegt Milei mit der in Argentinien einflussreichen katholischen Kirche im Clinch, nachdem er ihre Doktrin der sozialen Gerechtigkeit als kommunistischen Auswurf kritisiert hatte. Priester aus den Armenvierteln um Buenos Aires zelebrierten Anfang September eine öffentliche Messe gegen ihn. Vergangenen Montag meldete sich gar der argentinische Papst aus Rom zu Wort. Zum einen sei er kein Kommunist und: »Es gibt nur einen Messias, alle anderen sind Clowns«, sagte Papst Franziskus.

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