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Antisemiten sind immer die anderen
1923 kam es in Bayern zur massenhaften Ausweisung sogenannter Ostjuden – zehn Jahre bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen
Auf das Schweigen so vieler Linker in diesen Tagen hätte Eike Geisel die passenden Worte gefunden. »No Sexism!«, »No Racism!« und »Gegen Gewalt an Frauen!« steht auf Plakaten in nahezu jedem linken Veranstaltungsort, ist aber offenbar nicht der Rede Wert, wenn Hamas-Terroristen Menschen von einem Hippie-Festival in der Negev-Wüste verschleppen und misshandeln oder ermorden. Geisel war ein glänzender Stilist, ihm wären sicher allerhand Synonyme für diese Heuchelei eingefallen. Und was an diesem Punkt die Gewissheiten der Aktivist*innen angeht, es war nie anders: ihre innere Sicherheit verhielt sich schon immer reziprok zur Inneren Sicherheit Israels. Antisemiten aber sind immer die anderen.
Über den linken Antizionismus und die »Wiedergutwerdung der Deutschen« hat hierzulande wohl niemand besser spotten können als der 1997 verstorbene Publizist Geisel. Dazu sprach er einmal von der Erinnerung als höchster Form des Vergessens. Will doch die staatliche Erinnerungspolitik die Deutschen mit ihrer Geschichte versöhnen – und was nicht passt, wird passend gemacht. So geschehen, aber das ist nur ein Beispiel, im Mai dieses Jahres, bei den Lobreden von und an den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, der mit dem Lord-Jakobovits-Preis ausgezeichnet wurde.
Menschenfreund Söder
Seit 2011 verleiht die Europäische Rabbinerkonferenz den Preis an Persönlichkeiten, die sich für das europäische Judentum einsetzen und den Antisemitismus bekämpfen – den eigenen Kabinettstisch mal ausgenommen, wie sich gezeigt hat. Von Aiwangers »Jugendsünde«, dem antisemitischen Flugblatt mit dem versprochenen »Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz«, war zu diesem Zeitpunkt noch nichts bekannt, als Charlotte Knobloch, die 90-jährige Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, in ihrer Laudatio die wärmsten Worte fand: »Herr Ministerpräsident, Sie sind unser Schutzpatron.« Was hätte Eike Geisel wohl dazu geschrieben?
In Anbetracht der freistaatlichen Huldigung wären ihm vermutlich die Nuancen abhandengekommen. Ach der Söder, Markus: einer wie du und ich, ein guter Deutscher. Und so warmherzig. Der jedem das Gefühl gibt, er stehe auf seiner Seite. Als Politiker holt er die Leute ab. Oder lässt sie abholen, mit Polizeibegleitung zum Flughafen. Gemeinsam mit der AfD beklagt Söder seit vielen Jahren den »Asyltourismus« und lässt abschieben, in der Hauptsache selbstverständlich nur die »Straftäter«.
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Vielleicht hätte Eike Geisel beim Preisträger sogar etwaige Gewissensbisse diagnostiziert. Aus der Tiefenpsychologie ist bekannt, dass Menschen ihre Schuldgefühle nicht immer dort abarbeiten, wo sie entstehen. Sein nunmehr preisgekröntes Eintreten für jüdisches Leben in Bayern bescherte dem Protestanten Söder womöglich die Vergebung, nach der er seiner Flüchtlingspolitik wegen innerlich so gedürstet haben mag.
Vielleicht hätte Geisel auch in einem Essay über die Geschichtslosigkeit jener vorgeblich geschichtsträchtigen Veranstaltung sinniert. In der Münchner Residenz mahnte zwar ein Redner, dass nur wenige Meter entfernt der Hitler-Putsch gescheitert war und dass in dieser Stadt einmal die Pogromnacht begonnen hat. Aber es war doch deutlich, dass die Anwesenden ihren Frieden mit der Geschichte gemacht haben. Mit dem tatsächlich Geschehenen wollte man nicht behelligt werden. Etwa mit der Vorstellung, dass viele Judenhasser gar keine Nazis waren, sondern, wie heute auch, ganz gewöhnliche Deutsche. Und das schon in den Jahren der Weimarer Demokratie. Der Antisemitismus ging einmal vom bayerischen Staat aus.
Pogromstimmung
Als vor bald hundert Jahren, am 2. November 1923, die drei SPD-Minister im Kabinett des Reichskanzlers Gustav Stresemann zurücktraten, gaben sie als Grund unter anderem dessen Untätigkeit gegenüber den »mittelalterlichen Judenaustreibungen« in Bayern an. Gemeint waren die Massenausweisungen jüdischer Familien nach dem Ersten Weltkrieg, als der Flüchtlingsstrom noch aus Osteuropa kam und die meisten der Hilfe- und Heimatsuchenden eine jüdische Religion hatten. Dieser couragierte Akt der Reichsminister Robert Schmidt (Wiederaufbau), Gustav Radbruch (Justiz) und Wilhelm Sollmann (Inneres) ist in der Demokratiegeschichte der Deutschen und eben auch der Bayern völlig in Vergessenheit geraten.
Bis zu 100 000 »Ostjuden« lebten nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland. Viele dieser misrech-jidn, wie sie sich selbst nannten, waren vor den Pogromen geflohen und vor der wirtschaftlichen Not in ihrer Heimat; ein Teil von ihnen war auf der Durchreise in andere Länder oder nach Übersee. Und nicht wenige waren im Krieg sogar als Arbeitskräfte angeworben oder von den deutschen Besatzungsbehörden zur Zwangsarbeit deportiert worden. Die degoutante Rede vom Asyltourismus kannte man damals noch nicht, die Regierenden sprachen stattdessen von Schiebern, Schwarzhandel und Wucherern. Und so manche der in Bayern Ausgewiesenen werden Hilfe und Unterschlupf gesucht haben bei ihren Glaubensbrüdern und -schwestern im Berliner Scheunenviertel.
In den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts war hier ein jiddisch-kultureller Mikrokosmos entstanden, mit zahlreichen Betstuben, Talmudschulen und jüdischen Lebensmittelgeschäften, aber auch einer städtischen Obrigkeit, die ihnen nicht wohlgesonnen war. Eugen Ernst, der Berliner SPD-Polizeipräsident, schrieb im Februar 1921 seinem Parteifreund und preußischen Innenminister Wolfgang Heine einen offenen Brief, der von antisemitischen Stereotypen nur so strotzte und prompt in der Tagespresse abgedruckt wurde: »Es wimmelt hier von großen Mengen Elementen unlauterster Art, die nicht nur in kriminalistischer, sondern auch politischer Beziehung überaus gefährlich sind, weil sie aus ihrer polnisch-russischen Heimat bolschewistische Ideen hier einführen und weiterverbreiten. Dazu wird die Volksgesundheit durch diese Einwanderer stark gefährdet. Der Begriff Reinlichkeit ist diesen Leuten vollkommen fremd. Die mit Bewohnern unglaublich überfüllten Wohnungen starren vor Schmutz und Ungeziefer. Gleichzeitig sind sie angefüllt mit Lebensmitteln und Delikatessen aller Art, die im Wege des Schleichhandels erworben werden.« Ernst schlussfolgerte mit Nachdruck, dass »irgendwelche Rücksichten auf diese Existenzen (…) völlig überflüssig sein« dürfte. Stattdessen müsse man erwägen, »diese Ausländer bis zur Abschiebung in ihre Heimat in Gefangenenlagern unterzubringen oder, richtiger gesagt, unschädlich zu machen«.
In seinem Buch über die Ostjuden im Berliner Scheunenviertel schreibt Eike Geisel, dass nichts mehr zur »Schande der deutschen Revolution« gereicht habe, als der Willkommensgruß an die polnischen Juden: »keine brüderliche Proklamation, sondern ein Erlass des preußischen Innenministers, der Flüchtlinge wie ostjüdische Zwangsarbeiter auf die Fürsorge verweist«. Gemeint war nicht die staatliche Fürsorge, sondern die der jüdischen Organisationen. Diese Schande werde nur dadurch übertroffen, dass das jüdische Arbeiterfürsorgeamt mehr republikanische Gesinnung an den Tag gelegt habe als je eine deutsche Behörde. »So machten die Ostjuden, als Schachfigur deutscher Kriegspolitik in Polen missbraucht, eine Erfahrung, die sie von dort und in einer bitteren Redensart zusammengefasst kennen: ›Jak bieda to do żyda, po biedzie precz żydzie‹; was soviel heißt wie, dass die Juden sich zum Teufel scheren sollten, wenn die Not, wegen derer man sie gerufen habe, vorbei sei«.
In Preußen ging der kurzzeitige Innenminister Alexander Dominicus von der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) sogar so weit, am 23. Januar 1921 die Internierung unerwünschter Ausländer in »Konzentrationslagern« anzukündigen. Am 26. Februar wurde der Erlass in Kraft gesetzt. Das Bewachungspersonal sollte die Reichswehr stellen. Im pommerschen Stargard wie auch in Cottbus-Sielow wurden ganz offiziell die ersten »Konzentrationslager« für ostjüdische Migranten und andere Minderheiten errichtet.
Unter der Überschrift »Hölle Stargard« berichtete »Die Jüdische Arbeiterstimme« am 1. Juni 1921: »In Berlin, das angeblich von ostjüdischen Verbrechern nur so wimmelt, hat man Menschen von ihrer Arbeitsstelle weg verhaftet, ruhige Leute, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen, deren ganzes Verbrechen darin bestand, Ostjuden zu sein. Im Lager Stargard selbst feiert der altpreußische Kommiss seine höchsten Triumphe. Hier macht sich die erzieherische Wirkung des frisch-fromm-fröhlichen Weltkriegs bemerkbar. Hier regiert die gemeinste Beschimpfung und der Kolben. Es liegen Briefe vor uns, in denen erschütternde Szenen niedergeschrieben sind. Beschimpfungen wie ›Mistvieh‹, ›Saujud‹ und ähnliche nicht wiederzugebender Art sind an der Tagesordnung. Der Fraß, der gereicht wird, ist ungenießbar, die Baracken sind überfüllt. Nach 8 Uhr abends darf niemand aus der Baracke. Die Luft ist bei der Hitze und der großen Zahl Eingepferchter in höchstem Maße gesundheitsschädlich. Dauernd werden Internierte krank. Misshandlungen seitens der Wachmannschaften sind gang und gebe. Zurzeit liegen mehrere Personen, die mit Kolbenschlägen in der schrecklichsten Weise bearbeitet wurden, im Lazarett. Für ein- und ausgehende Briefe ist eine Zensurstelle eingerichtet.«
Hass und Hetze in Bayern
Der neue Antisemitismus – die Gewalt gegen Juden, die es im Wilhelminischen Kaiserreich so nicht gegeben hat – beschränkte sich nicht auf Preußen. Auch in Bayern sahen sich jüdische Menschen physisch bedroht. Bereits 1920 hatte die »Jüdische Rundschau« vermeldet: »In München ist ein förmlicher Terror gegen alle Fremden aufgerichtet worden und am schwersten leiden natürlich wieder die Ostjuden. Die antisemitische Bewegung in Bayern übertrifft alles bisher Dagewesene. Wir erhielten eine Sammlung von antisemitischen Flugblättern und Flugschriften, die an unflätigem Blödsinn die ganze pamphletistische Literatur in den Schatten stellen.« Bedauerlicherweise mache die Regierung den Kreuzzug gegen die Juden mit, ohne sich durch irgendwelche Bedenken moralischer oder politischer Natur behindern zu lassen.
Die israelische Historikerin Shulamit Volkov schreibt, dass der Antisemitismus jener Jahre zu einem »kulturellen Code« geworden war, einer Art ideologischem Kitt, der im rechten Spektrum die unterschiedlichsten Personen und Gruppierungen zusammenhielt. »Das Bekenntnis zum Antisemitismus wurde zu einem Signum kultureller Identität, der Zugehörigkeit zu einem spezifischen kulturellen Lager. Man drückte dadurch die Übernahme eines bestimmten Systems von Ideen und die Präferenz für spezifische soziale, politische und moralische Normen aus.«
Den Zweck der Mobilisierung im rechten Lager verfolgten im Herbst 1923 auch die Ausweisungen ostjüdischer Familien durch die bayerische Staatsregierung und durch den von ihr ernannten Generalstaatskommissar Gustav von Kahr – das war nicht nur propagierter, sondern praktizierter Antisemitismus. Kahrs Ernennung am 26. September 1923 zum Generalstaatskommissar mit diktatorischen Vollmachten war eine Reaktion der bayerischen Staatsregierung auf die Ankündigung der Reichsregierung vom selben Tag gewesen, den passiven Widerstand gegen die Ruhrbesetzung einzustellen. Darauf, dass die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen eine direkte Folge unbeglichener Reparationsschulden war, sei hier nicht weiter eingegangen. Der passive Widerstand gegen die fremden Soldaten jedenfalls, wie er beinahe ein dreiviertel Jahr vom deutschen Staat intensiv, aber ohne Erfolg gefördert worden war, hatte finanziert werden müssen – mit Geld, das nicht erwirtschaftet, sondern schlicht gedruckt wurde. Die dadurch in Gang gesetzte Inflationsspirale hatte Staat und Wirtschaft an den Abgrund geführt. Dass Kanzler Stresemann jetzt die Notbremse zog, empfanden rechte Kreise als tiefe Demütigung. Gustav von Kahr sah hierin seine Chance, von München aus gegen Berlin Politik zu machen. Kahr rief den Notstand aus, sorgte für ein Verbot sozialistischer Sicherheitsabteilungen und machte den Vertrieb der links- und liberalgerichteten außerbayerischen Presse unmöglich. Zudem ließ er die bayrischen Reichswehrkontingente auf seine Regierung vereiden.
Um seine Macht und Entschlusskraft zu demonstrieren, folgte am 5. Oktober 1923 jener Erlass, der für Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft im Falle eines vermeintlichen Vergehens gegen die sogenannte Wuchergesetzgebung die Ausweisung vorsah. Diese Verordnung zielte auf die in Bayern teilweise seit Jahrzehnten lebenden ostjüdischen Familien und ließ in ganz Deutschland die antijüdischen Äußerungen und Taten eskalieren. Im Verlauf des Herbstes kam es besonders in Bayern, Thüringen, Ostpreußen und Bremen zu Fällen von Gewalt und Einschüchterung jüdischer Menschen. Den Höhepunkt erlebte diese radikale Phase antisemitischer Gewalt beim Pogrom im Berliner Scheunenviertel am 5. und 6. November.
Putsch und Propaganda
Heutzutage würde man von Verschwörungsgeschichten sprechen. Die Ausweisungen jüdischer Menschen in Bayern waren eine Antwort auf eine Frage, die sich gar nicht stellte. Das Bild vom ostjüdischen Schieber und Wucherer war reine Propaganda und Demagogie. Die staatlich verordneten, antisemitischen Repressalien erfüllten allein den Zweck, die rechte Klientel eines Gustav Ritter von Kahr zu beeindrucken und für seine Sache zu mobilisieren. Die Zahl der erfolgten Ausweisungen ist heute nicht mehr zu ermitteln. Die jüdische Gemeinde in München protestierte ohne Erfolg bei der Staatsregierung. Um den Preis, die Verantwortung dafür zu tragen, dass der polnische Staat nun im Gegenzug Hunderte Angehörige der dort lebenden deutschen Minderheit ausweisen wollte, hatte Gustav von Kahr die unterschiedlichsten rechten Kräfte um sich scharen wollen – was ihm augenscheinlich aber nur bedingt gelungen ist.
Am 9. November 1923 sollte Adolf Hitler bekanntermaßen in München das erste Mal nach der Macht greifen. Weniger bekannt ist, dass bei dieser völlig konfusen Aktion auf Geheiß Hermann Görings gezielt jüdische Bürger als Geiseln genommen wurden. Kahr, der bei den Nazis um die damals fehlende Rückendeckung durch die Reichswehr wusste, folgte dem »Führer« nicht, sondern half bei der Niederschlagung des Putsches. In der bisherigen Geschichtsschreibung zum »Marsch auf die Feldherrnhalle« zieht Hitler, der ehemalige Postkartenmaler aus Österreich, der diesen Tag nur knapp überlebt hat, die meiste Aufmerksamkeit auf sich, was mit Blick auf seine Machtübernahme zehn Jahre später nur allzu verständlich ist.
Zu den dreizehn, wie es später in der NS-Propaganda heißen sollte, »Blutzeugen der Bewegung«, die damals von der Landespolizei erschossen wurden, gehörte aber auch der 50-jährige Oberlandesgerichtsrat Theodor von der Pfordten. In seinem Mantel fand sich ein Zettel mit der »Notverfassung«, die nach erfolgter Machtübernahme in Kraft treten sollte. Schon in diesem Papier sind die Konsequenzen dokumentiert, die eine Nazidiktatur mit sich brachte, erst recht für die in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden. Neben der Auflösung der parlamentarischen Körperschaften im Land wie im Reich und dem Streikverbot war bereits im November 1923 von der Entlassung jüdischer Beamter die Rede, von der Erlaubnis zur Einziehung jüdischen Vermögens und der Anweisung, »sicherheitsgefährliche Personen und unnütze Esser« in Sammellager oder zu Zwangsarbeiten zu überführen. Nahezu alle Paragrafen drohten bei Zuwiderhandlung mit der Todesstrafe.
»Friedliche rechte Herrschaft«
Nicht wenige Deutsche mögen in den folgenden »Goldenen Zwanzigern« den Eindruck gehabt haben, dass sich die gemäßigten Kräfte in der Politik durchsetzen würden; und tatsächlich bekam die Demokratie eine Atempause. Viele der misrech-jidn aber, die die antisemitische und rassistische Gewalt schon aus ihren Herkunftsländern kannten, gaben sich keinen Illusionen hin. Wer konnte, verließ Deutschland.
Eine Ahnung von der Zukunft in diesem Land hatte 1923 auch Abraham Revoutzky. »An der Schwelle der deutschen Konterrevolution« lautet die Überschrift seines Artikels in der Novemberausgabe von »Der Kampf«. Revoutzky, Herausgeber und verantwortlicher Redakteur der in Berlin erscheinenden jiddisch-zionistischen Zeitschrift, setzte sich darin mit dem in München gescheiterten Hitlerputsch auseinander und prophezeite die baldige Niederlage der Arbeiterbewegung in Deutschland, die einhergehen würde mit der Errichtung einer rechten Diktatur: »Natürlich lassen sich politische Prognosen nicht wie mathematische Formeln berechnen. Überraschungen sind immer möglich, auch angenehme. Die größte Wahrscheinlichkeit ist aber die, dass eine rechte Diktatur, ob mit oder ohne parlamentarischem Feigenblatt, in der nächsten Zeit in Deutschland die herrschende Regierungsform sein wird.«
Es sei sogar nicht ausgeschlossen, dass der Sieg der deutschen Reaktion nicht durch einen blutigen Bürgerkrieg kommen werde, sondern auf einem mehr oder weniger legalen Weg. »Hat doch der ›sozial-demokratische‹ Reichspräsident Ebert die Armee nach Sachsen und Thüringen geschickt, um die proletarischen Hundertschaften zu unterdrücken und so den Weg freigemacht von den größten Störungen für solch eine ›friedliche‹ rechte Herrschaft. Ist doch sogar das Kabinett von Stresemann, nachdem die Sozial-Demokraten herausgeworfen wurden (…) mehr oder weniger ›salonfähig‹ geworden für Verhandlungen mit den Deutsch-Nationalen und ihrem Eintritt. Nach seinem eigenen Sturz ist dieser Eintritt noch wahrscheinlicher geworden. Zuerst eine bürgerliche Regierung auf parlamentarischer Grundlage (von Demokraten bis Deutsch-Nationalen), danach dieselbe Regierung ohne die linkeren Elemente von Zentrum und Demokraten – und die rechte Diktatur ist verwirklicht worden ohne einen Bürgerkrieg. Natürlich wird die Restauration ohne großes Blutvergießen ›milder‹ sein, als wenn sie das Resultat eines schweren Bürgerkrieges wäre. Anstatt mit Hinrichtungen wird sie in solch einem Fall mit Gefängnissen und Konzentrationslagern operieren. Anstatt blutiger Pogrome auf Juden wird man sich mit der legalen Ausweisung der ›Ostjuden‹ begnügen und mit allerlei kaschierten Verfolgungen auf die ›eigenen‹ Vertreter der verhassten Nation.« – Gemeint waren die assimilierten, bürgerlichen Juden.
Am 31. Dezember 1923 schloss in Cottbus das letzte der beiden Konzentrationslager. Doch auch danach, so der unlängst verstorbene Historiker Wolfgang Wippermann in einer Studie, wurden in der Weimarer Republik »Konzentrationslager« betrieben, wie man in einigen Städten die »Zigeunerlager« nannte. Als die Nazis dann ab 1933 ihre eigenen KZ-Pläne umzusetzen begannen und dies auch in der nunmehr gleichgeschalteten Presse kundtaten, sollten sie den Begriff nie erklären. »Dies war auch gar nicht nötig«, meinte Wippermann. »Den Zeitgenossen war diese Bezeichnung bekannt. ›Konzentrationslager‹ waren nämlich keine Erfindung der Nationalsozialisten.«
Vom Autor erschien dieser Tage das Buch
»Pogrom im Scheunenviertel. Antisemitismus in der Weimarer Republik und die
Berliner Ausschreitungen 1923« im Berliner Verbrecher-Verlag.
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