An den deutschen Leviten genesen die Israeliten

Ein hessischer Kommentar zum Krieg in Nahost

  • Alexander Estis
  • Lesedauer: 8 Min.
Für Nicht-Deutsche eine typisch deutsche Redewendung erklärt: Wie bei Hempels unterm Sofa.
Für Nicht-Deutsche eine typisch deutsche Redewendung erklärt: Wie bei Hempels unterm Sofa.

Ein Hesse erklärt, weshalb Israel dringend auf den moralischen Beistand eines jeden Deutschen angewiesen ist:

Eihorrschemaa, Israel! Das ist kein Hebräisch, sondern Hessisch. Weil, ich komme aus Fritzlar, genau genommen aus dem schönen Ort Ungedanken. Obwohl wir so heißen, machen wir uns doch Gedanken über das eine oder andere, über dies und jenes, über hier und dort. Und besonders über dort. Nämlich über Nahost. Das ist für uns ein ganz wichtiges Thema, hier in Ungedanken.

Jetzt willst du bestimmt wissen, warum. Na ja, erstens ist Hessen genauso groß wie Israel. Oder Israel ist genauso klein wie Hessen. Kommt zwar darauf an, aber aufs Gleiche hinaus. Und wir Hessen haben es auch nicht immer leicht mit unseren Nachbarn, jawohl, manchmal sogar überhaupt nicht leicht. Man zieht uns auf, von wegen wie wir babbeln, oder mit dem Äbbelwoi oder mit dem Babbsagg Goethe oder was sonst. Und wir wissen, wie es ist, ständig auf einem Vulkan zu sitzen, gell, wir haben den Vogelsberg.

Ezzes von Estis

Alexander Estis, freischaffender Jude ohne festen Wohnsitz, schreibt in dieser Kolumne so viel Schmonzes, dass Ihnen die Pejes wachsen.

Zweitens: Hier in Ungedanken haben wir ja auch Juden unter uns, schon seit einem anderen Jahrhundert, ich weiß nur nicht, welchem, aber wir haben sie. Oder hatten. Heute vielleicht nicht mehr so viele oder keine. Die Synagoge wurde denen von den Nazis abgenommen. Seither ist sie ein Wohnhaus. Trotzdem, sie ist ja irgendwie noch da. Die Leute halt nicht mehr, oder nur wenige, wie gesagt.

Und drittens, weil wir Hessen halt Deutsche sind. Wir sind sogar die Mitte Deutschlands. Der Rest Deutschlands ist vielleicht sein Verstand, aber wir sind sein Herz. Für dich, Israel, bleibt unser Herz auch offen. Das ist unsere Räson. Wir Deutschen sind deine Freunde, Israel. Israel, deine Freunde sind wir Deutschen. Wir sind, Israel, deine Freunde, und du brauchst gerade jetzt ihre Hilfe. Also unsere. Was wären wir denn für Freunde, wenn wir dich jetzt im Stich ließen, gell? Wenn wir dich geradezu ins Messer laufen ließen? Deshalb muss jetzt jeder einzelne Hesse seiner moralischen Pflicht nachkommen; er muss sich berappeln, er muss aufstehen, aufrecht, er muss Haltung zeigen. Und dir einmal kräftig die Leviten lesen.

Gut, ich kenne mich vielleicht nicht so aus mit der ganzen Demografie, Geologie, Hysteriografie und was es da sonst noch an fiesem Zeug gibt. Wer steigt denn da durch? Das ist wie bei Hemmbels unnerm Sofa. Wenn man da durchsteigen will, steigt man gleich aus.

Und ich war auch nie drüben, in Nahost, und würd lieber auch nicht hin. Weil, es ist irgendwie doch nicht ganz so nah von unserem schönen Hesseland. Aber wo kommt man denn hin, wenn nur Leute was sagen, die sich auskennen und die schon da waren? Dann würd ja so gut wie fast niemand was sagen. Das wäre keine Demokratie mehr, sondern eine astreine Expertokratie. Und das haben wir schon mit Corona gesehen, gell, wohin das führt, wenn nur »Experten« (da mache ich jetzt ganz bewusst Gänsefüßchen) das Wort ergreifen. Am Ende ergreifen sie nicht nur das Wort, sondern auch uns, so ist das nämlich. Für die Experten sind die Dinge immer nur, was sie sind. Aber für uns Menschen sind das Herzensangelegenheiten. Weil, de Mensche geht es wie de Leut.

Gut, Wikipedia könnte ich vielleicht mal lesen. Mache ich nachher. Erst mal muss ich was loswerden. Wir Deutschen neigen dazu, alles komplizierter zu machen, als es nicht ist. Geht es um eine neue Verordnung für, was weiß ich, Zündhölzer, das ist ja das Einfachste von der Welt, aber da kommt sofort irgend so ein Mommsen daher und schreibt eine dreibändige historische Anbandlung. Nicht mit uns Hessen! Wir reden schneller, als wir denken, und das ist gut so. Wir machen es schon immer wie die Amis. Die schauen: Was sagt das Topmodel bei Tiktok? Ethnische Säuberungen. Und dann ist klar.

Da hab ich also auch geschaut auf Instagram: Wem tu ich folgen, was schreibt, zum Beispiel, die Spargelkönigin von Oberurff-Schiffelborn? Die redet ganz klar, was Sache ist. Und ich folge ihr. Du, Israel, bist zu einem richtigen Abartigkeitsregime geworden, du bist eine komplette Kolonialmacht, du wirst langsam zu einem rechten Unrechtsstaat! Und das, obwohl du genauso klein bist wie Hessen! Schau mal, wir Hessen sind keine Kolonialmacht. Wir wurden ja auch von Besatzern, sach isch ma so, installiert. Aber haben wir das etwa ausgenutzt?

Wir leben in Frieden mit unseren Nachbarn, obwohl uns die Franken manchmal echt uffe Sagg gehen. Die haben’s vielleicht auch abgesehen auf unser schönes Hesseland, die hätten vielleicht auch ganz gern, was weiß ich, Lützel-Wiebelsbach. Und für uns ist Lützel-Wiebelsbach wirklich wichtig, strategisch. Sozusagen als Vorposten. Wir haben auch was zu schützen. Unser Kellerwald zum Beispiel, der hat mehr als 1000 Pilzsorten! Den müssen wir schützen. Oder den Odenwald. Der gehört natürlich zum Hesseland, weil er unser Heiligtum ist. Aber jetzt hat eben Bayern einen Teil davon und sogar Baden. Und nun? Schreien wir deshalb, »die Hesse komme«, und marschieren bei Seckmauern über die Weißwurstgrenze? Bomben wir vielleicht den Gleitschirmstartplatz Busigberg zu? Oder besetzen Mörschenhardt?

Wenn wir jetzt nicht ein ernstes Wörtchen mit dir sprechen über deinen ganzen Kolonialismus, eieiei, da müssen wir aufpassen! Dann sind wir am Ende selbst Mitläufer. Dann sind wir Muffegänger, dann sind wir (man mag es sich gar nicht ausmalen) schlechte Menschen!

Schlechte Menschen sind wir keine! Jedenfalls sind wir besser als wie die Sachsen. Gut, wir haben jetzt auch viel AfD und so, aber dafür haben wir fast genauso viel Grüne, nur eben etwas weniger.

Gut, AfD hin oder her, wir sind jedenfalls keine Antisemiten. Sicher, der beste Mensch is e Ärscherniss, wann err net aach Hesse is. Aber deshalb sind wir nicht gleich Antisemiten. Also komm du mir jetzt nicht mit der Antisemitismuskeule. Wer mir damit kommt, dem sag ich: Mit Keulen kann ich auch. Wir Hessen haben die aale Keule erfunden! Und dein Antisemitismus, das ist auch eine aale Keule. Willst du da ewig drauf rumreiten? 

Die Leute drüben und deine ganze Geschichte, das hat doch nichts mehr mit den Nazis zu tun. Wenn de Kääs gesse iss, isser gesse. Der Grass, Gott hab ihn selig, hat das ja so gut herausgebracht, irgendwie richtig nobel. Bevor er nobel wurde, war er zwar selbst bei der Waffen-SS und hat lange nichts gesagt. Aber später fragte er sich: »Warum schwieg ich bislang?« Und dann hat er ganz klar gesagt, was Sache ist, wie das so aussieht mit dir, liebes Israel.

Da hast geguggd, da haste e Gsicht gemacht wie e Ochs, wenn’s donnert! Das nenne ich präventiver Erstschlag. Denn du, Israel, gefährdest den Weltfrieden, jawohl. Dein zynistischer Terror überzieht die Welt mit Schrecken, so sieht es aus. Das muss man noch sagen können, das kann man noch sagen müssen! Nur wegen unserer Vergangenheit dürfen wir dir jetzt nichts mehr vorwerfen? Nicht das kleinste bisschen? Nicht mal, dass du eigentlich gar nicht dahingehörst, nach Palästina?

Oder sagst du, wir sollten uns einfach mal um was anderes kümmern? Hättsde gern. Wir werden uns weder durch etwas noch durch nichts abbringen lassen von unserer Pflicht, von unserer heiligen Freundespflicht. So sind wir, die getreuen Hessen! Was sabbelst du? Die Uiguren? Die Kurden? Der Jemen? Mosambik? Syrien? Was? Ägypten, Iran, Libanon? Warum sollte uns das was angehen! Du, Israel, bist unser Freund, du gehst uns was an.

Und komm du mir jetzt nicht auch noch mit Fakten! Welche Fakten? Braue mer gar nedd drübber redde. Die Medien sind ja voll von Propaganda. Ich sage natürlich nicht, dass die Juden die Medien im Griff haben. Das sage ich natürlich nicht. Aber es gibt da schon so eine Tendenz. Es gibt da schon so einen Konsens. Man muss sich doch fragen, wo kommt das Geld her, wer finanziert die?

Gut, ist gerade vielleicht Mode, den Dampf abzulassen auf den ganzen Netzwerken. Wie bei der Rettichkönigin von Elnrode-Strang auf Instagram, da bist du, Israel, so eine Schlange, die wird von Palästina angefüttert. Und dann verschlingt sie es. Also Palästina. Aber mit solchen Sachen wird man ja auch gleich geblockt, gell. Da wird doch nur Dampf abgelassen, wie wenn man paar Fahnen verbrennt oder so.

Und am Ende kommst du mir, Israel, und sagst, du hast selbst die längste Geschichte mit Kolonie und Besatzung und so? Da sind welche schon vor paar Tausend Jahren vertrieben worden, und dann hat man sie fast alle getötet, und am Ende kommt der Rest zurück und wird von allen Seiten beschossen? Und du bist so klein wie Hessen, und die anderen sind so groß wie zweimal Australien?

Eihorrschemaa, Israel, du Blechkopp: Lass dich einfach mal schön auslöschen, dann finden dich bestimmt wieder alle toll, sogar wir hier in Ungedanken. Und wir nehmen danach gern wieder ein paar Juden auf, gell, gibt ja wenige hier oder vielleicht gar keine. Des kriee mer schon gebacke.

Unser Autor wird am Sonntag, den 22. Oktober, in Berlin mit dem Kurt-Tucholsky-Preis ausgezeichnet. Glückwunsch!

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.