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  • Hamburger Aufstand 1923

Mit dem Degen vorfühlen

Der »Deutsche Oktober« vor 100 Jahren begründete den Mythos um Ernst Thälmann

  • Ronald Friedmann
  • Lesedauer: 6 Min.
Bereit zum Kampf: Hamburger Arbeiter, Oktober 1923
Bereit zum Kampf: Hamburger Arbeiter, Oktober 1923

Die Ereignisse des Jahres 1923 erschütterten die junge Weimarer Republik bis in ihre Grundfesten. Am 11. Januar 1923 besetzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet, weil Deutschland bei der Zahlung von Reparationen aus dem Versailler Vertrag in Verzug geraten war. Schlagartig büßte Deutschland fast drei Viertel seiner Steinkohlenförderung und mehr als die Hälfte seiner Eisen- bzw. Stahlproduktion ein, mit den entsprechenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen.

Die Regierung von Reichskanzler Wilhelm Cuno finanzierte den »passiven Widerstand« gegen die Ruhrbesetzung mit Papiergeld, das beinahe stündlich an Wert verlor: Lag der Preis für einen US-Dollar im Dezember 1922 noch bei 1800 Reichsmark, so waren es Anfang November 1923 bereits unvorstellbare 420 Milliarden. Die Verelendung, die die Inflation mit sich brachte, betraf nicht mehr nur die einfachen Arbeiter und ihre Familien, sondern in zunehmendem Maße auch die Mittelschichten, die Einkommen und Ersparnisse verloren und sich im Ergebnis politisch radikalisierten. Insbesondere in Bayern, das zu einer Hochburg der frühen faschistischen Bewegung geworden war, und im Rheinland gewannen separatistische Bestrebungen zunehmend an Einfluss.

Am 12. August 1923 kapitulierte Reichskanzler Cuno und trat zurück. Den letzten Anstoß hatte ein Generalstreik gegeben, der am Tag zuvor von der Berliner Betriebsrätekonferenz ausgerufen worden war und der sofort auf ganz Deutschland ausstrahlte. Neuer Reichskanzler wurde Gustav Stresemann, der eine Regierung der Großen Koalition unter Einbeziehung der SPD bildete. Für Millionen Menschen verband sich der Regierungseintritt der Sozialdemokratie mit der Hoffnung auf einen politischen und vor allem wirtschaftlichen Umschwung, der Arbeit und damit Brot bringen würde.

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In Moskau, am Sitz der Komintern, der Kommunistischen Internationale, sah man die Lage in Deutschland anders. Dort war man zu der Schlussfolgerung gelangt, dass der Rücktritt der Regierung Cuno die politische und wirtschaftliche Krise weiter vertiefen würde. Somit würde in Deutschland eine revolutionäre Situation, vergleichbar der Lage in Russland im Sommer 1917, heranreifen. Die KPD müsse daher mit aller Kraft die Mobilisierung der Massen vorantreiben und kurzfristig eine bewaffnete revolutionäre Erhebung vorbereiten.

Ab Ende August 1923 wurde unter Mitwirkung hochrangiger sowjetischer Offiziere ein streng geheimer militärpolitischer Apparat aufgebaut, der die Führung des geplanten bewaffneten Aufstandes übernehmen sollte. Spitzenfunktionäre der KPD, unter ihnen Ernst Thälmann, reisten nach Moskau, um dort gemeinsam mit ihren sowjetischen Genossen die »Deutsche Oktoberrevolution« zu planen.

Anfang Oktober 1923 stimmte die Spitze der Komintern dem Eintritt kommunistischer Minister in die von linken Sozialdemokraten geführten Landesregierungen von Sachsen und Thüringen zu, nachdem die KPD die sozialdemokratischen Minderheitsregierungen zuvor bereits toleriert hatte. In Moskau ging man davon aus, dass diese Arbeiterregierungen nur bis zum Sieg des »Deutschen Oktobers« im Amt bleiben würden und dass die kommunistischen Minister nur eine Aufgabe zu lösen hätten – die Bewaffnung der Arbeiter in Sachsen und Thüringen. Als Antwort auf den Regierungseintritt der Kommunisten in die sächsische Landesregierung am 10. Oktober 1923 kündigte der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert die Reichsexekution gegen Sachsen an. Die Reichswehr bereitete die militärische Besetzung des Landes vor.

Diese Entwicklung machte alle Aufstandsplanungen hinfällig. Nun sollte ein deutschlandweiter Generalstreik gegen den Einmarsch der Reichswehr in Sachsen das Signal für den bewaffneten Aufstand geben. Um sich der Unterstützung der sozialdemokratischen Arbeiter zu versichern, sollte der Aufruf zum Generalstreik von einer Konferenz der sächsischen Regierung mit Gewerkschaftern und Betriebsräten am 21. Oktober 1923 in Chemnitz beschlossen werden. Doch unter dem Einfluss führender sächsischer Sozialdemokraten lehnte die Konferenz einen solchen Aufruf ab. Daher entschied die Zentrale der KPD noch am selben Abend, den Beschluss zum »Generalstreik und Entscheidungskampf« zunächst aufzuheben. Der »Deutsche Oktober« war gescheitert, bevor die Kämpfe überhaupt begonnen hatten.

Bis heute ist nicht wirklich klar, warum es in Hamburg am 23. Oktober 1923 dennoch zu bewaffneten Aktionen kam. Die Mehrzahl der überlieferten Berichte machte die mangelhafte Nachrichtenverbindung zwischen der Zentrale und den Bezirken der KPD verantwortlich: Hamburg sei nicht rechtzeitig über den Chemnitzer Beschluss zur Verschiebung des »Deutschen Oktobers« informiert worden. Es gibt aber auch einen Bericht, dass die Führung der KPD in Hamburg »mit dem Degen« habe vorfühlen wollen, ob ein lokaler bewaffneter Aufstand zur Initialzündung einer deutschlandweiten Erhebung werden könnte.

Völlig abwegig ist hingegen eine Version, die bereits in den 30er Jahren erstmals kolportiert wurde, dass der Hamburger Aufstand nur deshalb stattgefunden habe, weil Ernst Thälmann die vor dem Versammlungssaal in Chemnitz wartenden Kuriere noch vor der Abstimmung über den Generalstreik instruiert habe: »Haut ab! Fahrt los! Geht in Ordnung.« Einem anderen Mitglied der Zentrale der KPD sei es zwar gelungen, die Kuriere am Chemnitzer Bahnhof abzufangen; der Kurier nach Hamburg sei indes bereits unterwegs gewesen. Diese Geschichte hat einen entscheidenden Fehler: Thälmann war überhaupt nicht in Chemnitz.

Dennoch war es sehr wahrscheinlich Ernst Thälmann, der als Vorsitzender der Hamburger Ortsgruppe der KPD in den späten Abendstunden des 22. Oktober 1923 die Entscheidung traf, ungeachtet des Chemnitzer Beschlusses am folgenden Tag in seiner Heimatstadt einen bewaffneten Aufstand auszulösen.

Die erste Aktion des Hamburger Aufstandes in den frühen Morgenstunden des 23. Oktober 1923 galt der Beschaffung von Waffen, denn vor Beginn der Kämpfe verfügten die Hamburger Kommunisten lediglich über 35 Gewehre und einige Pistolen, die nur bedingt einsatzbereit waren. Um 5 Uhr begann der Angriff auf die Polizeiwachen, von denen bis 8 Uhr 13 besetzt werden konnten. Die nachfolgenden Barrikadenkämpfe konzentrierten sich auf den vorwiegend von Arbeiterfamilien bewohnten Stadtteil Barmbek. Die militärische Führung lag bei Hans Kippenberger.

Doch sehr schnell wurde deutlich, dass es unter den Hamburgern zwar große Sympathien für den Aufstand gab, aber kaum die Bereitschaft, sich den Kämpfenden anzuschließen. Spätere Schätzungen zeigten, dass nicht mehr als 150 Aufständische mit der Waffe in der Hand kämpften; logistische Unterstützung leisteten etwa 1000 Frauen und Männer. Nach 24 Stunden wurden die Kämpfe abgebrochen, weil es keine Aussicht auf Erfolg gab. In der Nacht zum 25. Oktober zogen sich die Barrikadenkämpfer – von der Polizei unbemerkt und ohne weitere Verluste – aus ihren Stellungen zurück.

Wo sich Thälmann während des Aufstandes aufhielt, ist nicht bekannt. An den militärischen Handlungen war er nicht beteiligt, möglicherweise hat er das Kampfgebiet nicht einmal betreten. Das war überall in Hamburg bekannt, schon deshalb hatte Thälmann in späteren Jahren immer wieder protestiert, wenn seine Genossen versuchten, ihn post festum zum »Barrikadenkämpfer« zu machen.

Die parteioffizielle Sichtweise auf den Hamburger Aufstand änderte sich sehr schnell. Noch in den Tagen der Kämpfe hatte die Zentrale der KPD in einem Rundschreiben festgestellt: »Hamburg muss für die Partei eine eindringliche Lehre sein, wie man es nicht macht.« Und der sowjetische General Woldemar Rose hatte Ende Oktober 1923 nach Moskau berichtet, dass der Hamburger Aufstand »keine Massenaktion, sondern ein Putsch war. Die Arbeiter Hamburgs – im Ganzen genommen – reagierten nicht mit dem Generalstreik auf den Aufstand.«

Zwei Jahre später, Thälmann war inzwischen von der Komintern an die Spitze der KPD gesetzt worden, konnte er mit den »Lehren des Hamburger Aufstandes« seine sehr eigene Sicht präsentieren: »Der Aufstand war ein Musterbeispiel für die glänzende, reibungslos arbeitende Organisation des revolutionären Kampfes. (...) Die Kommunisten waren nicht in Worten, sondern in der Tat der Vortrupp, die Führung, der Wegweiser der Arbeiterklasse. Sie gaben der Bewegung ein klar umrissenes Ziel, ein genau formuliertes Programm: die Diktatur des Proletariats. In dieser Beziehung steht der Hamburger Kampf auf einer weit höheren Stufe als alle früheren Bewegungen.«

Diese weltfremde Einschätzung, die keinerlei Bezug zu den tatsächlichen Ereignissen hatte, wurde zur »kanonischen Oktoberlegende« (August Thalheimer) und blieb für Jahrzehnte die Grundlage der offiziellen Parteigeschichtsschreibung.

Dr. Ronald Friedmann, Mitglied des Sprecherrates der Historischen Kommission der Linkspartei, arbeitet an einer Thälmann-Biografie, die im kommenden Jahr erscheinen wird.

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