Wu Mings »Ufo 78«: Wie links sind Ufos?

Dem postautonomen Autorenkollektiv Wu Ming ist mit »Ufo 78« ein genialer Roman zwischen Popkultur, Politik und Weltall gelungen

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 6 Min.
Das Weltraumfieber packte in den 60er und 70er Jahren nicht nur die Italiener: eine vermeintliche Ufo-Aufnahme von 1963, New Mexico (USA)
Das Weltraumfieber packte in den 60er und 70er Jahren nicht nur die Italiener: eine vermeintliche Ufo-Aufnahme von 1963, New Mexico (USA)

Ende Juli 2023 beschäftigte sich ein Ausschuss des US-Repräsentantenhauses in Washington mit Ufo-Sichtungen. Angeblich, so warf ein ehemaliger Mitarbeiter des Pentagon der Regierung vor, betreibe diese seit Jahrzehnten ein Programm zur Bergung und zum Nachbau unbekannter außerirdischer Flugobjekte. Ufos scheinen also gerade wieder Konjunktur zu haben.

Mit der Frage, ob Außerirdische tatsächlich die Erde besuchen, womöglich auch Menschen entführen und in fliegenden Untertassen über den Himmel unserer Großstädte kreuzen, beschäftigt sich auch der neue Roman »Ufo 78« des italienischen Autorenkollektivs Wu Ming. Dass die seit einem Vierteljahrhundert recht erfolgreich linksradikale Politprosa produzierenden Postautonomen aus Bologna in einem Roman über die 70er Jahre in Italien inklusive der damaligen politisierten Subkulturen ausgerechnet über Ufo-Sichtungen schreiben, ist dabei schon überraschend. Das kämpferische Jahrzehnt in Italien, über das auch Nanni Balestrini seine stilprägenden und hierzulande in der linken Szene breit rezipierten Romane schrieb, hätte auch etwas anderes hergegeben als Ufo-Geschichten.

Das titelgebende Jahr 1978 wird in Italien gemeinhin als bedeutsame innenpolitische Zäsur begriffen, unter anderem wegen der Entführung und Ermordung des Democrazia-Cristiana-Politikers Aldo Moro durch die Roten Brigaden. Zugleich wurden Schwangerschaftsabbrüche legalisiert – ein realpolitischer Erfolg der feministischen 68er-Bewegung. Aber es gab auch mehr als 2000 Ufo-Sichtungen: ein Rekord! Das mag auch damit zu tun gehabt haben, dass im Februar 1978 Steven Spielbergs »Unheimliche Begegnung der dritten Art« in den italienischen Kinos anlief. Die Gazetten waren jedenfalls in jenem Jahr immer wieder voll mit Meldungen über vermeintliche Raumschiffbesucher aus dem All. Drückte der suchende Blick in den Himmel vielleicht die Sehnsucht nach etwas Anderem und Besserem als die dauernden Polizeirazzien jenes Jahres aus, mitten in der sogenannten »bleiernen Zeit«, etwas Besserem auch als die mitunter hart geführten politischen Kämpfe, in denen auch die organisierte neofaschistische Rechte immer wieder zuschlug? Oder stehen die Ufos für den sich am Horizont abzeichnenden neoliberalen Turn? Allzu einfache Lesarten, leicht zu entschlüsselnde Allegorien bieten die vier Autoren aus Bologna nicht an. Vielmehr treiben sie mit den Lesern in »Ufo 78« auf knapp 500 Seiten ein faszinierendes literarisches Katz- und Mausspiel.

Zu Beginn dieses unter anderem in Rom, Bologna, Turin und der Toskana angesiedelten Romans geht es um zwei jugendliche Pfadfinder, die während eines Sommercamps auf dem fiktiven Berg Quarzerone in der Nordtoskana auf mysteriöse Weise verschwinden. Der Berg kommt immer wieder als Ort geheimnisvoller Ufo-Sichtungen in die Schlagzeilen, es kursieren aber auch alte Legenden über Werwölfe und ein magisches weißes Wildschwein, die auf dem Bergmassiv ihr Unwesen treiben sollen. In Rom beschäftigt sich derweil der Schriftsteller und Paläoastronautik-Experte Martin Zanka (ein Alter Ego des kommunistischen Autors Peter Kolosimo, der eine Art linksradikaler Erich Däniken Italiens war) mit der Frage, ob die Außerirdischen schon seit Jahrtausenden die Erde besuchen. Sein heroinabhängiger Sohn Vinzenco lebt derweil in einer esoterischen Kommune nicht weit vom Quarzerone, wo sich im Landgut einer Industriellenfamilie eine ganze Gruppe junger Menschen um die Anführerin Orsola schart und sich an einem alternativen Lebensentwurf versucht.

Die Anthropologin Milena Cravero aus Turin arbeitet an einem Forschungsprojekt zu den italienischen Ufologen, die mit ihren Theorien, Diskussionen, Magazinen, Radiosendungen, informellen Treffen, Untersuchungen und Kongressen reichlich diesen Roman bevölkern. Und dann gibt es da noch das subkulturelle Urgestein Jimmy Fruzzetti, Betreiber des Ladens und Versandhandels Hallogallo für Musik, Bücher, Fanzines und jede Menge psychedelischer Gegenkultur, mit dem sich Milena auf eine Affäre einlässt.

»Ufo 78« fächert ein grelles subkulturelles Panorama der 70er Jahre auf. Es geht um jede Menge Musik, vor allem auch um deutschen Rock von Can bis Amon Düül, um Drogen, Science-Fiction und um die tiefsitzende Sehnsucht nach unbekannten, nicht identifizierten Objekten, die geheimnisvoll durch den Himmel gleiten. Wo die Fiktion beginnt und das Spiel mit zeithistorischen Ereignissen und Personen aufhört, erschließt sich kaum, erst recht nicht dem deutschen Leser. Wobei die Entführung und Ermordung Aldo Moros und die von März bis Mai 1978 damit einhergehenden Verschärfungen polizeilicher Kontrollen, Zugriffe und zahlreichen Verhaftungen den stets präsenten Hintergrund dieses Romans bilden.

In diesen Monaten, in denen ganz Italien und jeder Bürger von der Polizei überwacht, durchsucht und identifiziert wurde wie nie zuvor und danach, üben die nicht identifizierten Flugobjekte verständlicherweise eine starke Faszination aus. Der Quarzerone und die nach Jahren immer noch vermissten Teenager werden schließlich zum Dreh- und Angelpunkt von Marin Zankas Recherchen, in denen es erst einmal um mögliche Ufos geht, aber bald die italienische Zeitgeschichte und vor allem die neofaschistische Bewegung in der Toskana in den Mittelpunkt des Interesses rückt.

Könnten die vermeintlichen Außerirdischen, die einen Mann auf dem Berg niedergeschlagen haben, womöglich rechte Bombenleger sein, die auf dem Bergmassiv ein geheimes Waffenlager betreiben? Und was hat das mit den geheimen Netzwerken der Organisation Gladio zu tun, deren Existenz erst 1990 von Ministerpräsident Andreotti eingeräumt wurde und die Guerilla- und Sabotageaktionen im Fall eines Krieges gegen den sozialistischen Ostblock ausführen sollte? Es geht in »Ufo 78« aber auch um den Kolonialismus Italiens und die brutale Niederschlagung eines antikolonialen Aufstands im Äthiopien der 30er Jahre. Zudem spielen auch der Kampf der Partisanen gegen die Faschisten und die Frage, welche Kontinuitäten und Verbindungen zwischen Bürgertum, Alt- und Neofaschisten sowie der kolonialen Geschichte bestehen, eine wichtige Rolle in diesem überaus eigenwilligen, aber schlicht genialen Buch zwischen Popkultur, Antifaschismus, Kommunismus und der Sehnsucht nach außerirdischer Präsenz.

Fast entsteht der Eindruck, als wären Teile der Geschichte Italiens wie nicht identifizierte Objekte, die am Himmel des zeitgeschichtlichen Horizonts versteckt sind und erst aufgefunden und untersucht werden müssen. Dazu fahren Wu Ming in »Ufo 78« jede Menge verschiedener Textfragmente auf, aus denen dieser auch dramaturgisch außergewöhnliche Roman montiert ist. Zwar gibt es eine zentrale Erzählerstimme, aber immer wieder wird auch aus den fiktiven Büchern Martin Zankas, aus einer Chronik der Kommune in Thanur, dem anthropologischen Forschungsbericht Milenas, jeder Menge Zeitungsartikeln, Konzertkritiken von Jimmy Fruzzetti sowie aus Akten von Polizei und Geheimdiensten zitiert. Dabei schlägt der Text einen weiten Bogen von den 70er Jahren bis in unsere Gegenwart. Wo die historische Recherche aufhört und wo die Fiktion beginnt, bleibt unklar, auch wenn es am Ende des Buches eine ganze Bibliografie gibt, die Teil dieses literarischen Verwirrspiels um unbekannte Objekte ist. Übrigens stieg die Zahl der Ufo-Sichtungen während der Pandemie wieder rasant an. Insofern besitzt dieser Roman über die 70er Jahre hinaus eine brisante Aktualität.

Wu Ming: Ufo 78. A.d.Ital. v. Klaus-Peter Arnold. Assoziation A, 480 S., geb., 28 €.

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