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Mit dem Nachtzug durch Europa: Das rollende Schlafzimmer
Wie Nachtzüge dabei helfen können, die Klimakrise zu bekämpfen – und welche Hindernisse noch im Weg stehen
Praktisch, zeitsparend und sogar noch komfortabel: Der Nachtzug ist ein wahres Multitalent. Dabei stand er noch vor wenigen Jahren in Deutschland vor dem kompletten Aus, verdrängt von den immer günstigeren Angeboten der Billigflieger, die sich in Europa ausbreiteten. Im Dezember 2016 streicht die Deutsche Bahn sämtliche eigene Nachtzugverbindungen aus dem Fahrplan und verabschiedet sich damit aus dem Nachtverkehr mit Schlaf- und Liegewagen. Der Grund: Die Züge sind nicht profitabel, jedes Jahr sorgen sie für ein Millionendefizit.
Doch das nächtliche Bahnreisen in Deutschland ist trotzdem nicht tot: Wer sich an einem beliebigen Wochentag um kurz vor 21 Uhr am Gleis 4 des Berliner Hauptbahnhofs einfindet, den erwartet dort auch heute noch ein Nachtzug, Zugnummer 408. Nur, dass dieser nicht mehr in den Farben Rot und Weiß der Deutschen Bahn lackiert ist, sondern in einem satten Dunkelblau. Denn als die Deutsche Bahn 2016 ihren Nachtzugverkehr einstellt, retten die Österreichischen Bundesbahnen – kurz ÖBB – viele der alten Verbindungen. Dafür kauft der österreichische Staatskonzern auch alte Nachtzugwagen der Deutschen Bahn.
»Wir haben seit 2016 unser Angebot kontinuierlich erweitert«, sagt Bernhard Rieder, Pressesprecher der ÖBB. Heute betreibt der Konzern ein umfangreiches Nachtzugnetz, das nicht nur Österreich umfasst, sondern bis in sieben europäische Staaten reicht: nach Frankreich, Deutschland, Polen, Belgien und Italien sowie in die Schweiz und die Niederlande. Eine ziemliche Erfolgsgeschichte: So haben sich die jährlichen Fahrgastzahlen im Nightjet nach Konzernangaben von rund 700 000 im Jahr 2017 auf gut 1,5 Millionen im Jahr 2022 mehr als verdoppelt.
Doch auch für die ÖBB sei es schwierig, Nachtzüge kostendeckend zu betreiben, schließlich seien sie viel komplexer als ein Zug am Tag: »Ein Nachtzug ist im Prinzip ein Hotelbetrieb und eine Transportleistung und beide Themen müssen gekoppelt werden«, erklärt Rieder. Trotzdem interessierten sich mittlerweile auch andere große Bahnunternehmen für die Erfahrungen der Österreicher. Denn das Nachtzuggeschäft der ÖBB boomt, vor allem die Schlaf- und Liegewagen des Konzerns sind oft schon auf Wochen im Voraus ausgebucht. Staatsbahnen, die vor einigen Jahren ausgestiegen sind, besinnen sich jetzt wieder auf den Nachtzugverkehr. »Und immer mehr von diesen Bahnen möchten auch mit uns zusammenarbeiten«, erzählt Rieder.
Ein Gewinn für beide Seiten: Schließlich brauchen die ÖBB bei ihren internationalen Nachtzugfahrten auch die Unterstützung anderer Eisenbahnunternehmen, etwa im Vertrieb oder durch Lokomotiven oder Lokführer, die die jeweilige Landessprache sprechen und die nationalen Regeln beherrschen. Daher spricht die Deutsche Bahn nicht mehr von der Einstellung ihres Nachtzuggeschäfts, sondern präsentiert sich viel lieber als Teil einer europäischen Nachtzug-Allianz, die mit Bahnkonzernen in Österreich, der Schweiz, Tschechien, Belgien, Frankreich und den Niederlanden zusammenarbeitet. Zur Wahrheit gehört aber eben auch, dass ohne die ÖBB die meisten Nachtzugverbindungen in Deutschland vermutlich noch heute stillgelegt wären. Für die Fahrgäste allerdings sind das organisatorische Spitzfindigkeiten – was für sie zählt, ist, dass der Zug fährt, egal von wem er betrieben wird.
Zurück zum Nachtzug Nummer 408 auf der Fahrt von Berlin nach Zürich: Auf dem Gang neben seinem Schlafwagenabteil steht Michał Stanikowski. Der polnische Musiker erzählt von seinen Erfahrungen mit nächtlichen Zugfahrten. Früher, als Student, sei er viel mit dem Nachtzug zwischen Polen und Deutschland gereist. Als klassischer Gitarrenspieler und -lehrer ist er auch heute noch viel unterwegs, gerade erst war er für einen Workshop in Berlin. Nun will er wieder zurück nach Zürich, wo er mit seiner Familie lebt. Eigentlich hat er wenig Zeit, schon am nächsten Morgen wartet ein Arbeitstreffen in Zürich. Doch das Reisen mit der Bahn entschleunigt auch seinen Alltag. »Ich merke, wie entspannt es ist, wenn man auf den Zug wartet«, sagt Stanikowski. »Man kommt ins Gespräch, am Flughafen dagegen herrscht schon ein bisschen mehr Hektik und Stress.«
Stressfreies Reisen, das dürfte einer der Gründe dafür sein, warum immer mehr Menschen den Nachtzug nutzen. Ein anderer ist wahrscheinlich eine gestiegene Sensibilität für das Thema Klimaschutz. Denn ein Zug emittiert im Fernverkehr laut Berechnungen des Umweltbundesamts nur etwa ein Drittel der Treibhausgase eines Pkws, im Vergleich zum Flugzeug sind es sogar nur etwa 17 Prozent. Die Bahn spielt deshalb auch eine wichtige Rolle in der Verkehrsstrategie der Bundesregierung. Bis 2030, so der Plan, sollen sich die Personenkilometer – also die Strecke, die ein Fahrgast mit der Bahn zurücklegt – im Vergleich zum Jahr 2021 verdoppeln.
Auch die Nachtzüge könnten dabei eine wichtige Rolle spielen. Das FDP-geführte Bundesministerium für Digitales und Verkehr lässt deshalb gerade ihr Potenzial in einer Studie prüfen. Dabei geht es auch um die Frage, wie wettbewerbliche Hürden im europäischen Nachtzugverkehr abgebaut werden können:
Trassenpreise etwa, also die Gebühren, die die Eisenbahnverkehrsunternehmen für die Nutzung der Gleise zahlen müssen. Ab Dezember dieses Jahres sollen für Nachtzüge die Trassenpreise günstiger werden. Dann wird für Züge mit langen Fahrzeiten, die mit mindestens einem Schlaf- oder Liegewagen unterwegs sind, auch für die eigentlich teureren Tagesrandzeiten nur der günstige Nachttarif fällig, so die Deutsche Bahn. Davon dürfte der Nachtzugverkehr profitieren.
Ein großes Problem allerdings ist die fehlende Infrastruktur: Vor allem abends und morgens gibt es kaum noch zusätzliche Kapazitäten im Schienennetz, die Nachtzüge nutzen könnten. Weil in den vergangenen Jahrzehnten das Netz bei gleichzeitig steigendem Verkehrsaufkommen in Deutschland geschrumpft ist, sind viele Streckenabschnitte schon heute überlastet. Abhilfe schaffen sollen hohe Investitionen in die Infrastruktur, etwa um Ausweichgleise zu schaffen oder vorhandene Strecken leistungsfähiger zu machen. Und auch die Nachtzuganbieter selbst stecken viel Geld in die Modernisierung ihrer Züge. Die ÖBB etwa
haben mehr als 700 Millionen Euro in 33 neue Nachtzüge investiert, die ab Dezember eingesetzt werden sollen. Jedes Abteil verfügt nun über eine eigene Toilette und Dusche, außerdem gibt es »Mini-Cabins« – Kabinen für Alleinreisende, die kleinen Hotel-Kapseln ähneln, wie sie etwa in Japan verbreitet sind. Mit den
neuen, modernen Zügen werden die ÖBB ihre Nachtzugkapazität ungefähr verdoppeln.
Um Nachtzüge zu fördern, gehen die europäischen Nachbarn unterschiedliche Wege. Österreich etwa subventioniert inländische Streckenabschnitte der ÖBB-Nachtzüge. Andere Staaten wie die Niederlande übernehmen das wirtschaftliche Risiko von neuen Nachtzugverbindungen in den ersten Betriebsjahren, um ihnen bei der Etablierung am Markt zu helfen. Und einige Strecken sind so populär, dass sie sogar von privaten Bahnunternehmen betrieben werden – zum Beispiel die Verbindung von Stockholm nach Berlin, die das schwedische Unternehmen Snälltåget von Ende März bis Anfang November anbietet.
Was aber ist das Geheimnis des Unternehmens, das mit seinen Nachtzügen auch ohne staatliche Unterstützung sogar Geld verdient? Ein Erfolg, den die Deutsche Bahn schließlich nie erreicht hat. Wichtig sei vor allem Flexibilität, meint Marco Andersson, der bei Snälltåget für das Marketing zuständig ist: Flexibilität bei den Preisen, die je nach Saison stark variieren, aber auch bei der Zuglänge. »Du kannst nicht immer mit der gleichen Anzahl an Wagen unterwegs sein. Das ist reine Geldverschwendung«, sagt Andersson. »Du musst dich der Nachfrage anpassen und darfst nicht mit leeren Wagen durch die Gegend fahren!«
Auch die Berliner Stadtverwaltung verfolgt die Entwicklung des Nachtzugverkehrs mit Interesse. Die damals noch von den Grünen geführte Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz hatte schon vor einiger Zeit eine Machbarkeitsuntersuchung in Auftrag gegeben, die im Frühjahr 2022 veröffentlicht wurde. Der Titel: »Berlin als Drehkreuz eines europäischen Nachtzugnetzes«. Die Ergebnisse seien vielversprechend: »Langfristig besteht auf jeden Fall ein Potenzial, in ganz Europa im Nachtzug unterwegs zu sein«, berichtet Verwaltungsmitarbeiter Steve Danesch. »Das müssen dann natürlich auch Nachtzüge sein, die ein bisschen schneller unterwegs sind.«
In nur einer Nacht von Berlin bis nach London, Lissabon oder Athen? Theoretisch ist alles möglich – aber aktuell leider noch ein ferner Traum. Denn momentan gebe es noch zu viele Hindernisse. Danesch zählt auf, welche das für ihn sind: zu wenige Schlaf- und Liegewagen, ein veralteter Wagenpark, technische Schwierigkeiten beim Grenzübertritt, hohe Trassen- und Energiepreise. Die Liste nimmt fast kein Ende. Doch das ließe sich alles ändern – wenn es nur ein Problem nicht gäbe: Denn die meisten Schwierigkeiten, die in der Studie identifiziert werden, liegen eigentlich im Wirkungsbereich des Bundes. Dort prüft das Bundesministerium für Digitales und Verkehr nun immerhin das Potenzial von Nachtzügen mit einer eigenen Studie. Und auf europäischer Ebene wird verhandelt, wie die wichtigsten Schienenverbindungen verbessert werden sollen, damit noch mehr Züge über Ländergrenzen hinweg durch die Nacht fahren können – so wie der Nightjet Nummer 408 auf der Fahrt von Berlin Hauptbahnhof nach Zürich Hauptbahnhof.
Die Nacht war ruhig, der Zug rollt längst durch die Oberrheinische Tiefebene, vorbei an Karlsruhe und Freiburg und weiter Richtung Schweiz. Langsam geht die Sonne auf. Michał Stanikowski schaut auf die Uhr und atmet auf: keine Verspätung. Dann klettert er aus dem Bett und streckt sich. »Ich habe gut
geschlafen, und glücklicherweise sind wir pünktlich, deswegen bin ich sehr glücklich«, sagt Stanikowski. Entspannt und gut gelaunt startet er in den Tag. Vielleicht sieht so die Zukunft des Reisens aus – nur bleibt bis dahin noch einiges zu tun.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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