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Tourismus in der Arktis: Auf dünnem Eis
Die arktische Region Spitzbergen ist unter wohlhabenden Touristen ein begehrtes Reiseziel und stark vom Klimawandel betroffen
Longyearbyen, 1300 Kilometer südlich des Nordpols: Oberhalb des kleinen internationalen Flugplatzes, wo früher Braun- und Steinkohle abgebaut wurden, hat man einen herrlichen Blick auf die Umgebung. Wohin man schaut: kleine Berge mit abgeflachten Kuppen. Bäume? Fehlanzeige! Dafür ist die Luft glasklar, der Himmel im Sommer strahlend blau. Mit 63 000 Quadratkilometern ist das arktische Seegebiet, in dem die zu Norwegen gehörende Inselgruppe Spitzbergen liegt, etwas größer als Kroatien.
In einiger Entfernung breiten sich schneebedeckte Gletscher aus. Sie machen 60 Prozent der Gesamtfläche des Archipels mit seinem Hauptort Longyearbyen auf der größten der rund 400 Inseln und Schären aus, die auch Spitzbergen heißt. Plötzlich beginnen die Ventilatoren einer Kühlanlage laut zu dröhnen. Von außen ist nur das betonierte schmale Eingangsportal zu erkennen, das aus dem schneebedeckten Berg zu wachsen scheint. Auf die Nutzung der Anlage weisen Lettern aus Metall hin: »Svalbard Global Seed Vault« (Globaler Saatgut-Tresor Spitzbergen – Svalbard ist seit 1920 der offizielle norwegische Name). Tief im Platåberget lagern hier Saatgut-Proben aus 231 Ländern der Erde.
Ein Mitarbeiter der Saatgutbank öffnet die zweiflügelige Stahltür am Eingang. Ihre Aufgabe: die »Vielfalt an Saatgut zu bewahren«, so Hannes Dempewolf. Er arbeitet als Biologe für den »Global Crop Diversity Trust« in Bonn, den Welttreuhandfond für Kulturpflanzenvielfalt. Die Nichtregierungsorganisation betreibt die weltweit einzigartige Saatgutbank. 2006 begannen die Bauarbeiten im Auftrag der norwegischen Regierung, 2008 wurde der Samentresor in Betrieb genommen. Seitdem werden hier mehr als 1,2 Millionen Saatgutproben von mehr als 5000 Pflanzenarten aus aller Welt gelagert, darunter Amaranth aus Ecuador, Wildbohnen aus Costa Rica, Tomaten aus Deutschland, Kichererbsen aus Nigeria, Mais aus den USA, Reis aus Indien.
Spitzbergen wurde aus mehreren Gründen als Standort gewählt: Das Archipel ist eine entmilitarisierte Zone und der nördlichste Punkt der Erde, den man mit Linienflügen erreichen kann. Norwegen führt keine Kriege, betreibt keine Atomkraftwerke, hat weltweit einen guten Ruf.
Doch die Erderwärmung stellt auch die Saatgutbank vor Probleme. So brachten unerwartet hohe Temperaturen im Herbst und Winter 2017 den Permafrost zum Schmelzen und sorgten dafür, dass Wasser in den Eingangsbereich der Anlage gelangte. Das habe die eingelagerten Proben aber nicht gefährdet, sagt Crop Trust-Direktor Stefan Schmitz.
Gleichwohl hatte die Lagerung des Saatguts von Beginn an ihre Tücken. Nicht nur, weil beim Bau des Bunkers gepfuscht wurde, wie aus einer Dokumentation des norwegischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens hervorgeht. Für die Bauarbeiten wurde das Berginnere künstlich erwärmt und der Permafrost dadurch zurückgedrängt. Die Kälte musste sich anschließend erst wieder ausbreiten. Das tat sie aber langsamer als erwartet. Noch immer hat sich im Verbindungstunnel keine durchgängige Eisfläche gebildet. Die Betonrisse überall im Boden, entstanden durch Tauwasser und bautechnische Nachlässigkeit, wurden behoben, sagt Schmitz. Für 20 Millionen Euro wurden der Eingangsbereich und der Verbindungstunnel zu den Lagerräumen inklusive Kühlsystem erneuert. Die Summe ist dreieinhalb mal so hoch wie die ursprünglichen Baukosten.
Der Klimawandel hat indes auch Spitzbergen längst erreicht, bestätigt Kim Holmén. Der schwedische Direktor des »Norwegischen Polarinstituts« ist eine Kapazität, wenn es um die Arktis- und Klimaforschung geht. Mit seiner Designerbrille, den wachen Augen und seiner »Schifferkrause«, einem Vollbart ohne Schnurrbart, schaut er etwas mürrisch drein. Die Fakten hat der Professor für Umwelt- und Klimastudien Journalisten und Politikern schon unzählige Male ins Notizbuch buchstabiert: Der Fjord vor Longyearbyen friert nicht mehr zu, die Gletscher auf Spitzbergen gehen zurück, und noch in diesem Jahrhundert könnte der gesamte arktische Raum im Sommer eisfrei sein.
Wissenschaftler wie Holmén haben ermittelt, dass sich die Arktis doppelt so schnell erwärmt wie der globale Durchschnitt – mit der Folge, dass die 350 Gletscher Spitzbergens bereits stark zurückgewichen sind.
Wir stehen im Adventdalen, einem Seitental des Isfjords vor der Hauptstadt Longyearbyen. Kleine Eisberge dümpeln vor sich hin, sie bilden wie eine Schafherde auf der Wasserweide immer neue Konstellationen. Welche Auswirkungen der Klimawandel auf das Ökosystem hat, wird von Holmén und Kollegen akribisch dokumentiert. Sie sind so etwas wie die Buchhalter des Untergangs.
Manche Tiere werden sich anpassen können, sagt Holmén, aber nicht alle. Der Polarfuchs sei gut gerüstet, dem Narwal dagegen gibt der Experte geringe Chancen. Auch die Zahl sogenannter gebietsferner Fisch- und Vogelarten sei gestiegen, erklärt der Wissenschaftler. So seien zum Beispiel Makrelen aus wärmeren Gewässern bis an die Küsten Spitzbergens gewandert. Sie gefährdeten die heimischen Arten und die Biodiversität insgesamt.
Auf den wenigen Straßen des 2400-Seelen-Ortes Longyearbyen mit seinen bunten Holzhäusern herrscht reges Treiben: Arbeiter, Studenten, Familien mit Kindern, Hotelangestellte, viele zu Fuß, einige in Pick-ups und Geländewagen unterwegs. Alle Erwachsenen sind erwerbstätig, es gibt keine Arbeitslosen, keine Sozialhilfeempfänger, keine Flüchtlinge und keine Rentner, weil alle vor dem Arbeitszeitende wieder wegziehen. »Der Tourismus ist für Longyearbyen sehr wichtig, weil er den Menschen Arbeit gibt und ein gutes Einkommen garantiert. Wenn der Kohleabbau zurückgeht, muss es andere Aktivitäten geben. Deshalb halte ich den Tourismus für enorm wichtig«, sagt der Jurist und ehemalige stellvertretende Gouverneur von Spitzbergen, Jens Olav Saether.
Anfang der 1990er Jahre begann die norwegische Regierung den Tourismus zu fördern. Immer mehr Kreuzfahrtschiffe suchen die Gewässer vor Spitzbergen auf. Vor 20 Jahren gab es auf Spitzbergen um die 20 000 Übernachtungen pro Jahr, 2019 waren es schon mehr als 160 000. Mit den Touristen kommen auch neue Probleme, so das mit dem Müll. Der biologisch abbaubare Teil geht in den Fjord. Der Rest muss auf das Festland verschifft werden. Umweltschützer sehen den zunehmenden Schiffsverkehr in der Arktis kritisch und warnen vor Havarien im empfindlichen Ökosystem.
Einst war Spitzbergen für seine Kohle bekannt, die meisten Siedlungen wurden von Bergleuten gegründet. 1906 wurde mit dem Abbau industriell begonnen, heute ist davon bis auf wenige Zechen nicht mehr viel übrig geblieben. Fast alle Bergwerksschächte sind stillgelegt: zu unrentabel. Der Weltmarktpreis für Kohle ist zu niedrig. Die letzte norwegische Kohlemine auf Svalbard sollte eigentlich 2023 geschlossen werden. Doch aufgrund des Krieges in der Ukraine und der damit verbundenen Energiekrise hat Norwegens Regierung beschlossen, sie erst später stillzulegen.
Vor allem aber passt der Abbau des »schwarzen Goldes« nicht mehr zum heutigen Image von Spitzbergen, und er könnte unkalkulierbare Umweltfolgen haben. Denn bis heute wird in Longyearbyen das einzige Kohlekraftwerk Norwegens betrieben. Aktuell plant die Betriebsleitung, die Kohle durch Diesel zu ersetzen. Das sei zwar kaum umweltfreundlicher, führe aber zu einer Halbierung der Kohlendioxidemissionen. Es sei auch nur eine Zwischenlösung bis zum Jahr 2033. »Wir tun dies, um uns auf die Nutzung erneuerbarer Energien vorzubereiten«, erklärt Torbjörn Grotte, Projektleiter für die Energiewende in Longyearbyen. Die Suche nach »saubereren« Alternativen gehe weiter, der Übergang zu neuen Brennstoffquellen müsse sorgfältig geplant werden. In der Zwischenzeit suche man nach Lösungen für die Stromversorgung des Ortes aus erneuerbaren Quellen.
Kaum ein anderer Ort der Welt ist so eng mit dem Eisbär verbunden wie Spitzbergen. Heute leben schätzungsweise 250 Exemplare rund um die Inselgruppe und auf ihr, rund 3000 sind es in der gesamten Barentssee-Region, die sich bis nach Russland erstreckt. In Longyearbyen wird quasi alles mit dem Konterfei des »Königs der Arktis« beworben, vom lokalen Bier bis zum Supermarkt. Trotz des Klimawandels ist die Population hier bislang nicht zurückgegangen. Anderswo in der Arktis geht es den Eisbären schlechter, weil es weniger Meereis gibt, wie etwa in der Hudson Bay in Kanada.
Gleichwohl sehen sich die Tiere auf Spitzbergen und in der Arktis neuen Gefahren ausgesetzt: Im Fettgewebe von Eisbären haben die Forscher Umweltgifte nachgewiesen. Besonders schnell steigt die Menge perfluorierter Verbindungen, die für wasserfeste Textilien verwendet werden. In den Mägen der Vögel findet sich immer mehr Mikroplastik. Wie es auf Spitzbergen weitergehen wird: »Niemand wird sagen können, er habe nichts gewusst«, bilanziert Arktisforscher Holmén. In seinen Vorträgen weist er gern auf eine seiner ersten wissenschaftlichen Arbeiten hin zum menschlichen Einfluss auf den Rückgang des Polareises. Sie ist über 30 Jahre alt.
Spitzbergen und die Arktis, einst ein eisiges, unzugängliches Gebiet, rücken zunehmend ins Zentrum wirtschaftlicher Interessen. Durch die Eisschmelze werden Rohstoffe leichter zugänglich. Die USA, Kanada, Russland und China könnten bald die Erdgas- und Erdölvorkommen der Region ausbeuten – es sei denn, sie werden gestoppt.
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