Dieses Land ist es nicht

Für den Deutschen Buchpreis wurde konventionelle Literatur über die DDR nominiert. Eine Kanonkritik an Anne Rabes »Die Möglichkeit von Glück«

  • Franziska und Jonas Haug
  • Lesedauer: 8 Min.
Szene aus einem Unrechtsstaat? DDR-Bürgerinnen beim Sommerurlaub im Wohnzimmer, ca. 1960,
Szene aus einem Unrechtsstaat? DDR-Bürgerinnen beim Sommerurlaub im Wohnzimmer, ca. 1960,

Der Deutsche Buchpreis ist eine ziemlich westdeutsche Angelegenheit. Warum? Weil sich dasjenige Erzählen über den Osten durchsetzt, das einem westlichen Blick gefällt. Ein Erzählen, in dem sich westdeutsche Beißreflexe in ihren Vorurteilen gegenüber dem Osten bestätigt fühlen. Darin ist die DDR bloß eine »Diktatur« mit ebenso schlechten wie kalten, weil arbeitenden Müttern und ebenso schwachen wie naiven, weil sozialistischen Vätern.

Die siebenköpfige Jury, darunter ein Juror aus Ostdeutschland, setzte in diesem Jahr drei Bücher über das Aufwachsen in der DDR auf die Nominierungsliste: »Die Möglichkeit von Glück« von Anne Rabe, »Risse« von Angelika Klüssendorf und »Gittersee« von Charlotte Gneuß. Letzteres Buch war überschattet von der Frage, wer über den Osten erzählen darf und wer nicht: Gneuß wurde vorgeworfen, nicht »richtig« über den Osten zu erzählen, weil sie 1992 in Ludwigsburg geboren wurde, also nach dem Ende der DDR. Ihr bemerkenswertes literarisches Verfahren der Vergegenwärtigung von Vergangenheit und die erzählerische Suche nach dem Verhältnis zwischen der Möglichkeit und der Wirklichkeit einer sozialistischen Utopie im Alltag der DDR rückte bei der Debatte in den Hintergrund.

»Die Möglichkeit von Glück« hat es bis in die engste Auswahl der Shortlist geschafft. Seitdem wird die 1986 geborene Autorin Anne Rabe in der Rezeption ihres Romans zur Erklärerin des Ostens stilisiert. Als eine Stimme, die die gesellschaftliche Situation in den neuen Bundesländern beschreibe und analysiere. Zugleich zeigt die Buchpreis-Jury mit der Shortlist eine erstaunliche Ignoranz gegenüber Geschichten aus und über Ostdeutschland, die sich des gleichen Themas wie Rabe annehmen, den Alltag in der DDR aber ambivalenter und widersprüchlicher erzählen, als Rabes Buch es vermag. Genannt seien hier Grit Lemke, Lukas Rietzschel, Olivia Wenzel oder Manja Präkels.

Kanon und Konformität

Was also stellt Anne Rabes Buch vor den anderen heraus? Welche Kausalitäten und Geschichten über die DDR und den Osten werden in den westdeutschen Kanon ein-, welche ausgeschlossen? Das Buch mag interessante erzählerische Momente haben, dennoch kommen wir nicht umhin, anzunehmen, dass nicht die literarische Qualität des Buches ausschlaggebend für die Auswahl war. Denn im Kontext einer wiedererstarkenden Debatte um die Hoheit und Definitionsmacht über das Narrativ DDR bietet es gerade keine neuen Blickwinkel. Stattdessen bestärkt es ein in Westdeutschland vertrautes, jedoch zunehmend auch immer weniger mehrheitsfähiges Narrativ des Ostens als ausschließlich gewaltvolle »SED-Diktatur«. Dass dieses Bild bröckelt, zeigen die Bücher der oben genannten Autor*innen, aber auch neue historische und soziologische Texte wie Katja Hoyers »Diesseits der Mauer« oder Carolin Würfels »Drei Frauen träumten vom Sozialismus« und nicht zuletzt Dirk Oschmanns »Der Osten: eine westdeutsche Erfindung«.

Über »Die Möglichkeit von Glück« zu schreiben und letztlich zu der Einschätzung zu kommen, dass dieses Buch seinen Platz auf der Shortlist vor allem deshalb gefunden hat, weil es ganz anständig das Narrativ des diktatorischen Unterdrückerstaates wiederkäut, hat jedoch auch etwas Bedauerliches. Bedauerlich zum einen, weil die hier formulierte Kritik eigentlich eher den westdeutschen Literaturbetrieb adressiert als Anne Rabe selbst. Bedauerlich aber auch, weil Rabe eine Form für ihr Buch gewählt hat, die durchaus die Möglichkeit geboten hätte, sich der DDR, den Verwerfungen an ihrem Ende sowie der Angliederung an die BRD zu nähern.

In »Die Möglichkeit von Glück« berichtet die Ich-Erzählerin Stine, die wie die Autorin 1986 geboren ist, ihre von Gewalt und Kälte geprägte Familiengeschichte. Durch Archivrecherchen, Erinnerungen und Gespräche setzt sich beim Lesen für Protagonistin und Leser*innen gleichermaßen ein Bild über die Geschichte und den Alltag der Familie, der Eltern und Großeltern, zusammen. Dabei geht die Autorin keinesfalls geradlinig oder chronologisch vor. Neben dem Erzählstrang aus der Ich-Perspektive wird wiederkehrend eine zweite, kursiv gedruckte Erzählinstanz gestellt, die die Ich-Erzählerin mit »Du« anspricht. Oft im Imperativ und mit zeitlichem Abstand zu Stines Erleben, spricht hier eine Art Alter-Ego oder Über-Ich Stines.

Zusammen mit der fehlenden zeitlichen Chronologie und Passagen, die wie Flashbacks unvermittelt im Text auftauchen, könnte sich auf formaler Ebene eine interessante, geradezu schizophrene Erzählform ergeben. Denn immer wieder gibt es Momente, in denen die Leser*innen gemeinsam mit der Protagonistin darum ringen, die Erinnerungen und Rechercheergebnisse einzuordnen. »Könnte«, weil auf inhaltlicher Ebene kein Bruch stattfindet, im Gegenteil: Beide Stimmen kommen immer wieder in einer Sache überein, nämlich dass die Gewalttätigkeit in Stines Familie ihren Ursprung im DDR-System habe. Die DDR sei eine »Diktatur«, die ihre »Legitimation vor allem aus der moralischen Idee« gezogen habe, »das andere, das bessere Deutschland zu sein. Das Deutschland ohne Faschisten!«

Moralisierende Narrative

Für den schwulen, kommunistischen Schriftsteller Ronald M. Schernikau war die Moral allerdings nur ein Vorwand, um die politische Dimension auszublenden: »Der Westen hat, und das ist ein so alter Trick, die Moral eingeführt, um über Politik nicht reden zu müssen. Moral, weil sie unter allen möglichen Standpunkten ausgerechnet den herzzerreißenden wählt, macht sich selber handlungsunfähig; deshalb ist sie so beliebt. Einen Vorgang moralisieren heißt, ihm seinen Inhalt nehmen.« Anne Rabe erklärte in einem Interview mit dem »NDR«, sie blicke mit »Demut« und »Dankbarkeit« auf den »Tag der deutschen Einheit«. Und auch für ihre Protagonistin ist die sogenannte Wiedervereinigung eine Befreiung. Sie drückt ihre Freude darüber aus, dass »drei Jahre« nach ihrer Geburt »eine friedliche Revolution das Land von Diktatur und Stasi befreien würde. Ich war vier, als es endlich hieß ›Deutschland einig Vaterland‹«. Für Schernikau war dieses Ereignis keine Befreiung, sondern eine Annexion: »Am 9. November 1989 hat in Deutschland die Konterrevolution gesiegt. Ich glaube nicht, daß man ohne diese Erkenntnis in der Zukunft wird Bücher schreiben können.«

Die Suche nach dem Alltag der eigenen Elterngeneration in der DDR, das Schweigen vieler Mütter und Väter sowie das Fehlen der Worte für die eigenen Erfahrungen wird vielen post-DDR-sozialisierten Menschen vertraut sein. So auch uns. Auch wir suchen nach der eigenen Geschichte und der richtigen Form, diese zu erzählen. Doch merken wir mehr und mehr, wie unsere Erinnerungen und Erfahrungen mit dem allgegenwärtigen Narrativ des Westens über die DDR in Widerspruch geraten. Der Soziologe Steffen Mau beschreibt diesen Moment in seiner bemerkenswerten Studie »Lütten Klein« als gespaltene Erinnerung. Rabes Buch hingegen stellt nicht diesen Bruch der Erinnerung, die gespaltene Geschichte in den Mittelpunkt, sondern bietet eine einfache Kausalkette an: Schuld am Leid der Familie ist die DDR.

Die Autorin schickt ihre Protagonistin auf eine Spurensuche, an deren Anfang die DDR nicht selten mit dem Nationalsozialismus parallelisiert wird und an deren Ende sie ihren Großvater als eine Art Archetypus des Mauerschützen herausstellt. Gleichwohl es von der Ich-Erzählerin keine direkten Vergleiche zwischen DDR und Faschismus gibt, lässt sie doch andere Figuren diese Parallelen ziehen oder positioniert sich mit einem dem vierten Kapitel vorangestellten Zitat des jüdischen Juristen Fritz Bauers als DDR-Gegnerin auf die Seite des Antifaschismus: »Ich sehe darin nicht eine Beschmutzung des eigenen Nestes; ich möchte annehmen, das Nest werde dadurch gesäubert.«

Fehlende Zusammenhänge

Obwohl Rabes Erzählperspektive eine Kausalität immer wieder behauptet, bleibt offen, wie genau ihre besondere Familiengeschichte nun eigentlich mit der DDR zusammenhängt. Das Buch zieht die Parallele zwischen dem Sadismus der Mutter und der Gesellschaft der DDR. Doch gibt es dafür keinen ursächlichen Zusammenhang – zumindest keinen, der ein Alleinstellungsmerkmal der DDR gegenüber der BRD wäre. Obwohl Rabes Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt ist, universalisiert ihre Erzählerin das »Wir« einer Generation. Sie tut dies unter anderem dort, wo die Erzählerin ihre singuläre Perspektive schildert und trotzdem »Wir« sagt. Dies suggeriert, dass alle Kinder der DDR nicht nur schlimme, sondern auch die gleichen Erfahrungen gemacht hätten. Aber was genau hat die Gewalt einer zu heißen Badewanne für das Kind mit der Stasi oder der SED zu tun? Auch aus der Mitarbeit des Großvaters in den politischen Strukturen der DDR wird nur ein dröger Täter-Opfer-Dualismus gedreht, ohne die Ambivalenzen und Widersprüche zwischen individuellem Leben und politischer Funktion in der DDR zu zeigen.

Der Roman greift weder Widersprüche produktiv auf, noch macht er sie greifbar. Wir gewinnen durch die Geschichte keine neue Perspektive auf das Leben in der DDR. Vielmehr offenbart sich ein weiteres ermüdendes Mal eine Erzählung, in deren Zentrum erstens die Stasi und die Unterdrückung durch die DDR-»Diktatur« und zweitens der daraus scheinbar bruchlos folgende Rechtsextremismus der Nullerjahre steht. Auch hier bleiben die Geschichten aus, die verstehbar machen könnten, woher die rechte Gewalt im Osten kam. Auch angesichts dieses Erzählstrangs, in dem Stine den Osten als »rechter« und »gewalttätiger« als den Westen beschreibt, können sich Westdeutsche entspannt zurücklehnen. (Allerdings hat die bayrisch-hessische Realität, die sich in den jüngsten Landtagswahlen ausdrückt, in diesem Punkt bereits über die Literatur gesiegt.)

Anne Rabe hat eine Familiengeschichte über schweigende, scheiternde Väter und sadistische, autoritäre Mütter geschrieben. Nicht mehr und nicht weniger. Abgesehen von den schwer zu ertragenen Parallelisierungen der DDR mit dem NS, den vielen Dualismen ohne Grautöne, der Freude über das Wüten der Treuhand und dem glühenden Antisozialismus ist dieses Buch bei weitem nicht das gesellschaftliche Ereignis, zu dem es stilisiert wird.

Franziska und Jonas Haug bilden zusammen mit Frederik Fingerhut das Kollektiv DiasporaOst. Sie suchen nach ästhetischen wie politischen Narrativen, um das Aufwachsen in Ostdeutschland im Umbruch von 1989/1990, das Erbe einer DDR-Sozialisation und das Leben in der Diaspora der BRD zu verstehen. Sie denken über das Träumen und Fürchten im Alltag der DDR nach, schreiben über und organisieren Veranstaltungen zu Kultur, Kunst und Politik der (Post-)DDR.

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