Schrei des Habichts – wohin steuert das Bündnis von Wagenknecht?

Die Ex-Linke-Politikerin hat ihr eigenes Projekt gestartet. Wie es tickt, verrät in Ansätzen das Gründungsmanifest

Sprachbilder sind mitunter Glückssache. Oder eben nicht. Klaus Ernst, dieser Tage mit der Gruppe um Sahra Wagenknecht aus der Linkspartei und der Linke-Bundestagsfraktion ausgetreten, antwortete neulich auf die Frage, wann es eine neue Partei gebe: Man solle die roten Hähne nicht flattern lassen, ehe der Habicht schreit. Eine Anlehnung an die Ballade von Joß Fritz, einem Bauernführer im beginnenden 16. Jahrhundert. Geschrieben und vorgetragen vom Kommunisten und Liedermacher Franz-Josef Degenhardt. Er erzählt von Widerstand und Aufruhr gegen die Obrigkeit, der Suche nach Bündnispartnern, Verfolgung und Verrat.

Nun ist der Habichtschrei ertönt. Allerdings musste Sahra Wagenknecht, anders als der legendäre Bauernführer, nicht unter Lebensgefahr im Untergrund gegen die da oben agitieren, organisieren und taktieren, wie Degenhardt sang. Sie konnte das in aller Öffentlichkeit tun, als Liebling vieler Medien, namentlich auch der konservativen. Und die roten Hähne, die sie flattern lässt – wie rot sind die tatsächlich?

In Brand setzen – so könnte man Degenhardts Metapher jedenfalls auch deuten – will sie das System des Kapitalismus ganz gewiss nicht. Im Gründungsmanifest ihres Bündnisses BSW, das Wagenknecht Anfang der Woche vorstellte, findet sich der Begriff Kapitalismus nicht einmal. Die Systemfrage wird nicht gestellt. Liest man das Manifest, dann finden sich in der Präambel zunächst Begriffe wie Leistung, Freiheit, Mittelstand und Wohlstand. Eine Wortwolke, die man eher mit der FDP verbinden würde. Sozialismus, Kapitalismus, Klasse, Gewerkschaft – Fehlanzeige. Und der Begriff Solidarität steht genau einmal in einer Zwischenüberschrift.

Schlagworte erklären nicht alles, und gewiss wird der Gründungserklärung ein ausführliches Programm folgen. Aber ein Statement ist es schon, wenn im Manifest der Abschnitt zu wirtschaftlicher Vernunft vor der sozialen Gerechtigkeit rangiert und gesellschaftlicher Konformitätsdruck sowie politischer Autoritarismus in Deutschland als eines der wichtigsten Probleme identifiziert werden. Über verengte Meinungskorridore wird ansonsten vor allem in konservativen und rechten Blasen lamentiert. Ihre künftige Partei sei »natürlich nicht rechts«, sagte Wagenknecht der »Süddeutschen Zeitung«, und wenn man unter links das Eintreten für soziale Gerechtigkeit, gute Löhne und Renten sowie internationale Entspannung verstehe, »dann bin ich links«.

Aufschlussreich ist, was sie in diesem Zusammenhang nicht sagt. Denn die größten Sorgen macht sie sich – so legen es das Manifest und zahlreiche Interviewaussagen nahe – um den Standort Deutschland, den man, so ihre Voraussage, in zehn Jahren nicht mehr wiedererkennen werde, wenn sich nichts ändert. Sie will sich »für den Erhalt unserer wirtschaftlichen Stärken« einsetzen, an erster Stelle. Kann man machen – die Frage ist, ob das eine linke Grundposition ist, wenn »die globalen Verwüstungen, die unser kapitalistisches Wirtschaftsmodell anrichtet, in Wagenknechts nationaler Erzählung keine Rolle spielen«, wie die Linke-Abgeordnete Kathrin Vogler in einer Kritik der BSW-Thesen schreibt.

Zur Klimapolitik, eine der größten Herausforderungen, hat das Manifest ein paar dürre Sätze übrig. Sie laufen darauf hinaus, dass die Energieversorgung sich mit heutigen Technologien zu erneuerbaren Energien nicht sichern lasse. Experten widersprechen dem vehement. Wagenknecht meint dennoch, man müsse die Sanktionen aufheben und zu russischem Billiggas und -öl zurückkehren, und hofft auf die Erfindung »innovativer Schüsseltechnologien«. Unklar bleibt, ob sie mit »blindem Ökoaktivismus« die Regierungspolitik oder die Aktionen von Umweltgruppen meint – oder womöglich beides. Mehr Tempo in der Klimapolitik kommt bei ihr nicht vor, im Gegenteil erweckt sie den Eindruck, als könne man sich damit Zeit lassen. Das kommt allen entgegen, die sich dem Veränderungsdruck widersetzen wollen. Der unter Linken längst etablierte Begriff der Klimagerechtigkeit fehlt im Manifest.

Im Prinzip ist das, wie auch auf anderen Politikfeldern, die Weiterführung der Thesen aus ihrem Buch »Die Selbstgerechten«, das sie geschäftstüchtig zu Beginn des Bundestagswahlkampfs 2021 auf den Markt warf und das in Teilen eine Abrechnung mit der Linkspartei war. Das BSW-Manifest ist ein Extrakt des Buches, was nur bestätigt, wer in diesem neuen Bündnis unangefochten den Ton angibt.

Inzwischen lässt Sahra Wagenknecht wissen, dass ihre noch nicht einmal gegründete Partei regieren will. Früher eher skeptisch gegenüber linkem Mitregieren, kann sie sich nun sogar vorstellen, in Sachsen mit der CDU zu koalieren – notfalls natürlich. Falls bei der Landtagswahl nächstes Jahr AfD und BSW in der Summe mehr als 50 Prozent hätten, müsse die Kretschmer-CDU überlegen, wie sie ohne die AfD Mehrheiten zusammenbekommen wolle. Da stört es offenbar nicht, dass man der Sachsen-CDU deutlich anmerkt, dass sie einen der stärksten und reaktionärsten AfD-Landesverbände im Nacken hat.

Die augenfälligsten Gemeinsamkeiten mit der Linke-Programmatik hat das BSW in der Sozial- und Friedenspolitik, wobei die Vorstellungen durchaus nicht deckungsgleich sind. Schon gar nicht, wenn Wagenknecht Wohnungsmangel, steigende Mieten und fehlende Kitaplätze in direkten Zusammenhang mit der Migration bringt. Sie stellt eine Konkurrenzsituation zwischen Einheimischen und Zugewanderten her – eine quasirassistische Argumentation, die bei ihr seit Jahren zu beobachten ist. Als Lösung für die »ungeregelte Migration« empfiehlt sie die äußerst restriktive dänische Flüchtlingspolitik, der vor allem die insgesamt erstarkten Rechtsparteien applaudierten.

Es gehört nicht viel Fantasie zu der Vermutung, dass über kurz oder lang Differenzen im Wagenknecht-Bündnis auftreten werden. Denn entweder müssten sich nicht wenige ihrer Anhänger etwa in der Migrationsfrage von bisherigen Auffassungen lossagen und sich Wagenknechts Kursverschärfung anschließen oder sich einfach verleugnen. Eine Weile wird Wagenknecht solche Probleme mit ihrer medialen Strahlkraft übertönen können, zumal dann,wenn es zu ersten Wahlerfolgen kommt; dauerhaft dürfte das nicht gelingen. Erst recht nicht, wenn man davon ausgeht, dass sich die Absicht, AfD-Wähler in größerer Zahl zu gewinnen, in Programmatik und praktischer Politik niederschlagen wird. Die Frage wird hier sein, ob Wagenknecht solche Wähler abholt, wie es in der Politikersprache heißt, oder ob sie ihnen hinterherläuft. Es gibt genügend Indizien, die Letzteres befürchten lassen.

Überhaupt schlägt sich Wagenknecht bei allem, was man unter dem Stichwort Kulturkampf zusammenfassen könnte, auf die konservative Seite. Das betrifft nicht nur Zuwanderung und »Ökoaktivismus«, sondern auch gender- und identitätspolitische Themen. Wenn man so will, bekommt Die Linke mit der Wagenknecht-Partei das, was die CDU mit der Werte-Union schon hat: einen wertekonservativen Ableger, der am alten Koordinatensystem festhalten will. Gregor Gysi beschreibt den Wagenknecht-Mix so: Sozialpolitik wie Die Linke, Wirtschaftspolitik wie Ludwig Erhard, Flüchtlingspolitik wie die AfD.

Die Linke singt am Ende ihrer Parteitage traditionell die Internationale. Wagenknecht hat schon eine Weile an keinem Parteitag mehr teilgenommen. Ob auch ihre Partei eine Parteitagshymne haben wird – und wenn ja, welche –, wird sich zeigen. »Die Internationale erkämpft das Menschenrecht«, heißt es jedenfalls im Lied der Linken. Die Internationale. Nicht die Nationale.

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