Opfer der Hamas: »In meinem Namen will ich keine Rache«

Angehörige der Opfer der Hamas in Israel sprechen sich gegen den Militäreinsatz im Gazastreifen aus. Auch sie verdienen, gehört zu werden

  • Orly Noy
  • Lesedauer: 6 Min.
Der Stadtteil Al-Rimal in Gaza nach einem israelischen Luftangriff
Der Stadtteil Al-Rimal in Gaza nach einem israelischen Luftangriff

»Alle reden von Einheit. Leute, Einheit ist etwas wirklich Schönes, aber der Kampf im Feld bedeutet auch Rache und Grausamkeit ... Wir müssen unser ganzes Leben lang trauern, und wir werden trauern. Aber im Moment gibt es nur ein Ziel: Rache nehmen und grausam sein.«

Dies waren die Worte des israelischen Reservesoldaten Guy Hochman, sonst ein Entertainer und Online-Influencer, in einem Interview auf Kanal 12 in den ersten Tagen des israelischen Angriffs auf den Gazastreifen nach den Massakern der Hamas-Kämpfer vom 7. Oktober. In nur wenigen Worten hat Hochman die Stimmung erfasst, die sich in Israel durchgesetzt zu haben scheint, von der extremen Rechten bis hin zu vielen, die sich selbst als Linke bezeichnen: die Rechtfertigung der Katastrophe, die Israel derzeit unter mehr als zwei Millionen Palästinensern in Gaza anrichtet.

Einige erklären ihre Gründe mit dem »Sieg über die Hamas«. Andere, wie Hochman, stellen die pauschale Rache über alles andere. Umso bemerkenswerter ist es, dass sich angesichts der vorherrschenden politischen Stimmung immer mehr Israelis, die die Massaker überlebt haben oder deren Angehörige getötet oder nach Gaza entführt wurden, zu Wort melden und sich eindeutig gegen die Tötung unschuldiger Palästinenser aussprechen und der Rache eine Absage erteilen.

In einer Trauerrede für ihren Bruder Hayim, einen im Kibbuz Holit ermordeten Aktivisten gegen die Besatzung, forderte Noi Katsman ihr Land auf, »unseren Tod und unseren Schmerz nicht dazu zu benutzen, den Tod und den Schmerz anderer Menschen oder anderer Familien zu verursachen. Ich fordere, dass wir den Kreislauf des Schmerzes durchbrechen und verstehen, dass der einzige Weg [vorwärts] Freiheit und gleiche Rechte sind. Frieden, Brüderlichkeit und Sicherheit für alle Menschen.«

Ziv Stahl, Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation Yesh Din und Überlebender des Höllenfeuers in Kfar Aza, sprach sich in einem Artikel in »Haaretz« ebenfalls entschieden gegen Israels Angriff auf Gaza aus. »Ich habe kein Bedürfnis nach Rache, nichts wird diejenigen zurückbringen, die weg sind«, schrieb sie. »Die wahllose Bombardierung des Gazastreifens und die Tötung von Zivilisten, die an diesen schrecklichen Verbrechen unbeteiligt sind, ist keine Lösung.«

Yotam Kipnis, dessen Vater bei dem Hamas-Anschlag ermordet wurde, sagte in seiner Trauerrede: »Schreiben Sie den Namen meines Vaters nicht auf eine [militärische] Granate. Das hätte er nicht gewollt. Sagt nicht: ›Gott wird sein Blut rächen.‹ Sagt: ›Möge sein Andenken zum Segen werden.‹«

Michal Halev, die Mutter von Laor Abramov, der von der Hamas ermordet wurde, warnte in einem auf Facebook geposteten Video unter Tränen: »Ich flehe die Welt an: Hört auf mit all den Kriegen, hört auf, Menschen zu töten, hört auf, Babys zu töten. Krieg ist nicht die Antwort. Mit Krieg kann man keine Probleme lösen. Dieses Land, Israel, macht Horror durch ... Und ich weiß, dass die Mütter in Gaza Horror durchmachen ... In meinem Namen will ich keine Rache.«

Maoz Inon, deren Eltern am 7. Oktober ermordet wurden, schrieb bei Al Jazeera: »Meine Eltern waren Menschen des Friedens ... Rache wird meine Eltern nicht ins Leben zurückbringen. Sie wird auch andere getötete Israelis und Palästinenser nicht zurückbringen. Sie wird das Gegenteil bewirken ... Wir müssen den Kreislauf durchbrechen.«

Als Yonatan Ziegen, der Sohn von Vivian Silver, von einem Journalisten gefragt wurde, was seine Mutter – von der angenommen wird, dass sie entführt wurde – darüber denke, was Israel jetzt in Gaza tue, antwortete er: »Sie wäre beschämt. Denn man kann tote Babys nicht mit noch mehr toten Babys heilen. Wir brauchen Frieden. Dafür hat sie ihr ganzes Leben lang gearbeitet ... Schmerz ist Schmerz.«

Eine 19-jährige Überlebende des Massakers im Kibbutz Be'eri hielt in einem Video, das inzwischen im Internet viral ging, einen bewegenden Monolog über die Vernachlässigung der Bewohner des Südens durch die Regierung, in dem sie für die Rückkehr der Geiseln plädierte: »Rückführung der Geiseln. Frieden. Anstand und Fairness ... Vielleicht fällt es einigen von Ihnen schwer, diese Worte zu hören. Es fällt mir schwer, sie auszusprechen. Aber nach dem, was ich in Be'eri durchgemacht habe, seid ihr es mir schuldig.«

Wir sind es ihnen schuldig. Ich höre ihnen zu und lese ihre Worte, und ich verneige mich vor ihrem Mut. Und ich denke über das seltsame Beharren so vieler, auch sogenannter Linker, darauf nach, den Grad unserer Solidarität, unseres Schmerzes oder unserer Wut daran zu messen, ob wir bereit sind, das Feuer zu unterstützen, das unsere Armee auf Gaza niederregnen lässt.

Was werden Sie zu dem trauernden Vater sagen? Zu dem Überlebenden des Massakers? Brauchen diese nicht auch Solidarität? Woher kommt deren Mut zu sagen, was in jedem einzelnen unserer gebrochenen Herzen und Seelen vorgeht?

»Ich habe meine Tochter verloren, nicht meinen Verstand«

Ich beobachte die Vorwürfe gegen diejenigen, die um ein Ende dieses sinnlosen Gemetzels, dieses schrecklichen und bedrohlichen Kriegsverbrechens in Gaza flehen, und ich denke an den Satz von Ben Kfir, einem Mitglied des Bereaved Families Forum, der sich vor Jahren in meinem Kopf eingeprägt hat, als er über die Sinnlosigkeit von Rache sprach: »Ich habe meine Tochter verloren, nicht meinen Verstand.«

Dieser Mann, der den Menschen verloren hat, der ihm am meisten am Herzen lag, und viele andere, die sich nun dem Kreis der Hinterbliebenen angeschlossen haben, verstehen, was so viele heute noch nicht verstehen wollen: dass der Weg, der uns angeboten wird, nämlich mehr Blut und mehr »Abschreckungsmaßnahmen«, genau der Weg ist, der uns schon so oft vorgegeben wurde und der uns zu den Schrecken geführt hat, die wir heute erleben.

Abgesehen davon, dass es unmoralisch ist, die Gräueltaten zu rechtfertigen, die Israel im Gazastreifen begeht, ist die Erwartung, dass das massenhafte Abschlachten dieses Mal zu einem anderen Ergebnis führen wird als all die vorangegangenen Militärkampagnen – die nichts erreicht haben, außer die Verzweiflung, das Leid und den Hass auf palästinensischer Seite zu vertiefen – eine schreckliche Selbsttäuschung, deren Preis wieder von den Bewohnern des Südens bezahlt werden wird.

Erzählen Sie nicht, dass Israel es für diese Menschen tut. Israel hat den Süden in einem riesengroßen Verbrechen im Stich gelassen und kann sein Verbrechen nicht mit dem Blut von Unschuldigen in Gaza wieder gutmachen. Anstatt sich dieser Rachsucht hinzugeben, sollten wir den Familien der Opfer zuhören.

Der Artikel erschien in englischer Sprache im 972 Magazin. Wir bedanken uns für die Erlaubnis zur Veröffentlichung. Übersetzung: Matthias Monroy

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