»Gaza = Stalingrad!«: Eselsbrücke ins Nirgendwo

Warum Geschichte besser nicht für eigene Zwecke herangezogen werden sollte

  • Henning Fischer und Tanja Röckemann
  • Lesedauer: 3 Min.
Ein Beitrag auf der Höhe der Zeit: Berlin, Oktober 2023
Ein Beitrag auf der Höhe der Zeit: Berlin, Oktober 2023

Über den Landwehrkanal in Berlin führt eine Brücke, die am 27. April 1945 den Frontverlauf der Befreiung der Stadt durch die Rote Armee markierte. Die Brücke selbst ist mehr als 100 Jahre alt, zunächst war sie aus Holz, nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie durch eine aus Stein ersetzt. Unserer Tage ist auf dieser Brücke, die von Neukölln nach Treptow führt, eine Parole zu lesen. Sie lautet »Gaza = Stalingrad«.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Diese Eselsbrücke ins Nirgendwo analogisiert die Gegenwart des Jahres 2023 mit der Geschichte des Nationalsozialismus und seinem Vernichtungskrieg in Osteuropa und der Sowjetunion. Auch wenn nicht ganz sicher ist, was die Gedanken bei der ›Niederschrift‹ waren, ist dieses Szenario wahrscheinlich: Der Angriff auf Gaza wird – und soll – für die israelische Armee zur desaströsen Niederlage werden, so wie die Schlacht um Stalingrad 1942 und 1943 als der Anfang vom Ende der Wehrmacht und des nationalsozialistischen Kriegsglücks gilt. Die Soldat*innen des jüdischen Staates »sind« hier die Deutschen, sprich, die neuen Nazis, und die Kämpfer von Hamas und Islamischem Jihad »sind« die Rote Armee des Jahres 2023, die die neuen Nazis zurückschlägt. Der nächste logische Gedankenschritt: Wie das NS-System soll auch Israel enden.

Der – vermeintlich historisch begründete – Gedankengang ist so absurd wie brutal. Die beteiligten militärischen Verbände, ihre Gesellschaften, die Entstehung des Kriegs, sein Ausmaß, Charakter und Territorium sind völlig unterschiedlich. Dies wissen auch die Urheber*innen, die ja an der Brücke nicht Geschichtswissenschaft, sondern Agitation betreiben wollten. Es geht ihnen nur um den Moment, für den ›Stalingrad‹ steht: im Angesicht der Übermacht zu bestehen, zurückzuschlagen und letztlich zu gewinnen.

Die Verfasser*innen von »Gaza = Stalingrad« benutzen die desaströse aktuelle Situation, das Leiden und Sterben von so vielen Menschen in Israel und den palästinensischen Gebieten für einen historischen Shortcut, offenbar getrieben von einer politischen Überforderung durch diese nächste große Krise und – mehr oder weniger versteckt, je nachdem, wie genau man hinschauen mag – von antisemitischer Wunschproduktion.

Dieser Bezug auf Geschichte ist rein instrumentell: Durch die Anrufung eines konkreten Ereignisses aus der Vergangenheit, das abschließend als Heldentat definiert worden ist, soll ein anderes konkretes Ereignis ebenso eindeutig als solche dargestellt werden, und zwar – dies ist der Zweck der ganzen Veranstaltung – ohne dass es einer eigenständigen Analyse unterzogen werden muss. Es ist ein propagandistischer und anti-aufklärerischer Trick, der in seiner Abstraktion sowohl den mörderischen Russlandfeldzug der deutschen Wehrmacht wie die Massaker und den Krieg in Israel/Palästina relativiert. Mit emanzipatorischer Kritik hat die ganze Übung nichts zu tun, mit Zynismus sehr viel.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -