Libanon: Am Rande des Krieges

Der Libanon könnte weiter in den Israel-Gaza-Krieg hineingezogen werden. Die Stimmung bleibt angespannt

Ein israelischer Panzer bewegt sich auf die libanesische Grenze im Norden Israels zu.
Ein israelischer Panzer bewegt sich auf die libanesische Grenze im Norden Israels zu.

Im Libanon wächst die Angst, dass die Kämpfe zwischen der vom Iran unterstützten Hisbollah-Miliz und Israels Armee (IDF) weiter außer Kontrolle geraten. Kurz nach dem Hamas-Angriff auf den Süden Israels landeten die Raketen der libanesischen Hisbollah noch unweit der libanesisch-israelischen Grenze. Mittlerweile treffen die Geschosse der Radikalen auch die 14 Kilometer entfernte israelische Stadt Kiryat Shmona. Mit Drohnen und gegen israelische Panzer abgeschossene Raketen provoziert die Hisbollah die israelische Armee. Alltag an der bereits an ein Kriegsgebiet erinnernden Grenze.

Israelische Kampfjets und Artillerieeinheiten nehmen im Gegenzug Hisbollah-Einheiten außerhalb des von den Vereinten Nationen überwachten Gebietes unter Beschuss. »Mehr als 43 Dörfer wurden auf der israelischen Seite der Grenze evakuiert«, sagt ein Offizier der Hisbollah dem »nd« bei einem Treffen in Tyros (Sour) stolz. Er sieht den Rückzug der Zivilbevölkerung und den bisher ausgebliebenen umfänglichen israelischen Einmarsch in den Gazastreifen als Erfolg seiner Armee-ähnlich organisierten Miliz. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah behauptet, ihm stünden 100 000 Kämpfer und 5000 bis Tel Aviv reichende Raketen zur Verfügung. Die israelische Besatzung von Gaza bezeichnete Nasrallah zunächst als Grund, in den Krieg an der Seite der Hamas einzutreten. Am Freitag will sich der 63-Jährige erstmals seit den Terrorangriffen vom 7. Oktober öffentlich zu dem Konflikt äußern.

In der südlibanesischen Hafenstadt Tyros bereiten sich viele Bewohner bereits auf eine Eskalation der Lage vor. Die Stimmung in dem hauptsächlich von Schiiten bewohnten Süden des Libanon ist eigentlich seit dem letzten israelisch-libanesischen Krieg vor 2006 gereizt. Die israelische Besatzung hat viele in Tyros zu Hisbollah-Anhängern gemacht. Insgeheim hoffen viele auf eine Revanche gegen den militärisch übermächtigen Nachbarn. Doch es geht auch die Angst vor dem finanziellen Kollaps um. Die Familie des Fischers Mohammed Mahmoud hat wie viele Libanesen in den letzten beiden Wochen Lebensmittel und Benzin gehortet. »Falls es hier knallt, würden wir uns auf den Weg in den Norden machen, nur wohin?«, sagt der 56-Jährige. Übermäßig besorgt scheint er dennoch nicht zu sein, aus Verzweiflung, wie er lachend sagt. »Wir kommen mit meinem Einkommen gerade über die Runden, uns woanders eine Wohnung zu mieten, ist unmöglich. Auch ohne Krieg führen wir wie alle hier einen Überlebenskampf.«

Die USA, Großbritannien, Deutschland und andere Länder haben ihre Bürger aufgefordert, den Libanon zu verlassen.

Die israelischen Angriffe im Süden des Landes haben 19 000 Libanesen zu Flüchtlingen gemacht. Ihre Dörfer galten als Hisbollah-Hochburg, nun leben sie in den schiitischen Vororten der Hauptstadt Beirut, mithilfe der als soziales Netzwerk organisierten Hisbollah-nahen Hilfsorganisationen.

»Ich hoffe inständig, dass der Krieg auch uns nicht erreicht«, sagt der Galerist Saied Hassan in Beirut. »Dann wird es einen Kreislauf von Krisen geben, der das Land in den Abgrund führen kann. Wir werden nicht in der Lage sein, so eine Krise wirtschaftlich zu bewältigen. In den Krankenhäusern fehlt es schon jetzt an allem.«

Mit der Online-Petition »Libanon gegen den Krieg« auf der Plattform »Change.org« macht eine Bürgerinitative dagegen mobil, dass der Libanon in den Krieg zwischen Israel und Gaza hineingezogen wird. Erst 9000 Bürger unterstützen die Kampagne gegen den Libanon als »Schlachtfeld für Stellvertreterkriege ausländischer Mächte«.

Die Mehrheit der Libanesen, mit denen das »nd« in Tyros sprach, wollen eine aggressivere Haltung des Libanon gegenüber der israelischen Regierung. Fast täglich wird in Beirut für Solidarität mit den Palästinensern protestiert. In Dauerschleife laufen auf den Mobiltelefonen im Land Videos mit erschütternden Szenen aus dem Gazastreifen. Al Jazeera und andere arabische Medien übertragen die Rettungsarbeiten der Sanitäter des Roten Halbmonds nach israelischen Bombardierungen von Wohnvierteln in Gaza oft live. »Ich stand bisher wie viele außerhalb der schiitischen Wohnviertel von Beirut der Hisbollah kritisch gegenüber«, sagt der Galerist Seid Hassan. »Nun sind viele hier froh, dass die Miliz der größte abschreckende Faktor in der Region gegen die unerbittlich vorgehende israelische Armee geworden ist.«

Doch die Hisbollah ist nicht die einzige Miliz im Grenzgebiet zu Israel. Palästinensische Kämpfer, die mit Hassan Nasrallahs Zustimmung im Libanon stationiert sind, haben ihre Angriffe verschärft. Am 29. Oktober erklärte die Hamas, ihre Kämpfer hätten vom Libanon aus Raketen abgefeuert, eine andere bewaffnete palästinensische Gruppe hat die Verantwortung für einen Angriff auf den Norden Israels übernommen.

Die Koexistenz mit palästinensischen Kämpfern im Grenzgebiet zu Israel ermöglicht es der Hisbollah, glaubhaft zu leugnen, dass ihre Streitkräfte rote Linien überschritten hätten, was zu massiven israelischen Luftangriffen führen könnte. Die palästinensischen Kämpfer spielten im 15-jährigen libanesischen Bürgerkrieg eine gewichtige Rolle, wurden aber 1982 aus Beirut vertrieben und stehen der Hisbollah scheinbar nahe.

»Das Abladen der Schuld auf palästinensische Gruppen ist ein kalkulierbares Risiko für die Hisbollah«, sagte Randa Slim, Expertin des Middle East Institutes. »Die lose Zusammenarbeit mit palästinensischen Kämpfern erinnert die Mehrheit der Libanesen an den letzten Krieg mit Israel, in dem auch der Süden Beirut schwer getroffen wurde.«

Der geschäftsführende Ministerpräsident des Libanon, Najib Mikati, erklärte am Montag gegenüber der Nachrichtenagentur AFP, trotz der Eskalation an der Südgrenze einen Krieg zu vermeiden. Er wird dies im Alleingang bewerkstelligen müssen. Das libanesische Parlament war bisher nicht in der Lage, einen Nachfolger für den ehemaligen Präsidenten Michel Aoun zu wählen, dessen Mandat vor einem Jahr ablief.

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