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Angriff in den Olivenhainen
Tunesische Behörden gehen mit großer Gewalt gegen Geflüchtete vor und setzen so EU-Politik um
Sicherheitskräfte haben nahe der Küstenstadt Sfax begonnen, zwölf selbst organisierte Flüchtlingslager zu räumen, in denen seit einem Jahr bis zu 30 000 Migranten und Flüchtlinge leben. Zuvor waren die vor dem Bürgerkrieg im Sudan und der Wirtschaftskrise in Westafrika geflohenen Menschen aufgefordert worden, sich bei der Organisation für Migration (IOM) zu melden, um die Rückkehr in die Heimat zu organisieren. Vorauskommandos der tunesischen Nationalgarde warnten, wer die Camps nicht verlasse, würde in das Grenzgebiet nach Libyen oder Algerien deportiert.
Im sogenannten »Kilometer 30«, einem Lager für 4000 Menschen nahe dem Fischerdorf Al-Amra, wurden am Dienstag neben einer von Freiwilligen betriebenen Feldklinik auch vor den Sicherheitskräften versteckte Lebensmittelvorräte verbrannt. Im Schutze der Dunkelheit drangen dann Zivilisten und Uniformierte in das benachbarte »Kilometer 25« genannten Camp ein und zündeten die Zelte von Schlafenden an. Einer der gewählten Streitschlichter des nach der Entfernung von der Hafenstadt Sfax benannten Lagers, Jaja Darbo, rettete nach eigener Aussage ein Baby vor den Flammen, mehrere Menschen wurden verletzt. Am Mittwochmorgen wurde etwas weiter nördlich ein Migrant aus Sierra Leone von Unbekannten erschossen.
Menschenrechtsaktivisten üben kritik
Die Behörden bezeichnen die Aktion als Räumung illegaler Camps. Tunesische Menschenrechtsaktivisten kritisieren die Aktion, denn die Bewohner waren von den Behörden vor fast zwei Jahren aus Sfax in die Felder vertrieben worden. In der angekündigten Rückführung in die Heimat durch die Migrationsexperten der Vereinten Nationen sehen die Migranten einen Vorwand.
»Wer sich an die IOM wendet, wird nicht wie versprochen zurückgeflogen, sondern mit Bussen und ohne Nahrung an die algerische oder libysche Grenze deportiert«, beschwert sich Darbo. Die Bewohner mehrerer Camps schauen sich die Zerstörung ihrer aus Plastikplanen und Holzlatten zusammengebauten Zelte aus sicherer Distanz an. »Einige meiner Freunde wurden verhaftet«, sagt der 28-Jährige aus Gambia, »aber wir hoffen immer noch, mit einem Boot nach Lampedusa übersetzen zu können.«
In Sfax sammeln sich Geflüchtete zur Überfahrt nach Europa
Der 60 Kilometer lange Küstenstreifen nördlich der Hafenstadt Sfax ist Sammelpunkt derjenigen geworden, die auf einen Platz in den Schmugglerbooten nach Lampedusa oder Sizilien hoffen. Doch seit August 2024, als die Brüsseler EU-Kommission mit Präsident Kais Saied ein Migrationsabkommen unterzeichnete, fängt die tunesische Küstenwache fast alle Boote mit Migranten an Bord ab.
Gleichzeitig kommen immer mehr Menschen nach Sfax. In Al-Amra und Dschebianna, wo man vergeblich auf die Verbesserung der Infrastruktur von Schulen und Krankenhäusern durch Geld aus Brüssel wartet, wurden mehrere Migranten auf offener Straße angegriffen. Noch während der Corona-Pandemie hatten Einheimische und Migranten friedlich zusammengelebt: Westafrikaner arbeiteten als Tagelöhner in Restaurants, Cafés oder Fabriken und halfen diesen durch die Wirtschaftskrise.
»Wir sind die Grenzschützer Europas geworden. (...) Die Leute sind es leid, für ein Europa den Kopf hinzuhalten, das den Massakern in Gaza tatenlos zuschaut.«
Ziad Melluli Gründer einer Bürgerinitiative in Sfax
Dann entfachte eine Wutrede des Präsidenten eine Welle der Gewalt, die Nationalisten mit Videos auf sozialen Medien geschickt vorbereitet hatten. Statt zusammen mit der EU eine geordnete Rückführung der Migranten zu organisieren, bezeichnete Saied die Migration als Verschwörung fremder Mächte gegen die arabische und islamische Identität Nordafrikas. Nach gewaltsamen Übergriffen auf dunkelhäutige Menschen in Tunis und Sfax flohen Geflüchtete und Migranten in die strandnahen Olivenhaine.
Zur Abschreckung neuer Migranten wurden den Migrationsexperten von IOM und dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) die Arbeitslizenzen entzogen. Viele Aktivisten privater tunesischer Hilfsorganisationen aus Sfax sitzen wegen angeblichem finanziellem Missbrauch von Spenden oder wegen der Annahme von Geldern aus dem Ausland hinter Gittern.
Fünf Menschen pro Monat sterben in den Lagern
»Seit Februar dürfen uns auch die lokalen Apotheken keine Medikamente mehr aushändigen«, klagt Ibrahim Foufana, der in mehreren Lagern Feldkrankenhäuser aufgebaut hat. Der 26-jährige angehende Chirurg aus Sierra Leone behandelt zusammen mit einem Freiwilligenteam seit dem letzten Sommer Verletzte, chronisch Kranke und hilft schwangeren Frauen bei der Geburt. »Seitdem die tunesischen Krankenhäuser selbst hochschwangere Migranten ablehnen, werden hier Kinder unter unglaublich schlechten hygienischen Bedingungen zur Welt gebracht.«
Durchschnittlich starben in den Lagern zuletzt durchschnittlich fünf Menschen pro Woche, berichtet Foufana, an eigentlich heilbaren Infektionen oder Schwäche. Seit der Räumung harren mehrere Tausend Menschen ohne Regenschutz oder Lebensmittel schutzlos im Freien aus.
Viele Tunesier sind zufrieden über die Räumung
In Al-Amra, eigentlich ein verschlafenes Fischernest, sind viele über die Räumung der Camps der »Afrikaner« zufrieden. »Entlang der gesamten Küste steigen wegen der bis zu 70 000 Migranten im Süden Tunesiens die Lebensmittelpreise«, klagt Ziad Melulli, Gründer einer Bürgerinitiative für die Wiederherstellung von Recht und Ordnung in Sfax. »Wir sind die Grenzschützer Europas geworden. Doch gerade hier, wo das Zusammenleben mit den Migranten so lange gut funktioniert hat, überlässt man uns hilflos mit den Folgen der Blockade des Mittelmeers. Die Leute sind es leid, für ein Europa den Kopf hinzuhalten, das den Massakern in Gaza tatenlos zuschaut.«
Die italienische Regierung hatte am Mittwoch angekündigt, Tunesien bei der »Repatriierung« der Migranten mit 20 Millionen Euro zu unterstützen. Bis Mittwochmorgen hatten sich jedoch nur wenige Migranten von »Kilometer 30« bei der IOM in Al-Amra für ein Rückführungsprogramm in die Heimat angemeldet.
Auch sie berichten von der Furcht, dass die Beamten der Nationalgarde sie in Bussen an die algerische Grenze deportieren könnten. Die meisten fliehen vor den Sicherheitskräften einfach tiefer in die Olivenhaine, ohne ihr Hab und Gut. »Niemand ist mehr sicher«, berichtet Saiko Jeng von »Kilometer 31«. »Und wir haben nichts mehr zu essen.«
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