Syrien: Die Schreie der Opfer sind nicht verstummt

Das Assad-Regime hat säuberlich Buch geführt über die in den Gefängnissen festgehaltenen und gefolterten Gefangenen

Bilder von Vermissten am Haupttor des berüchtigten Gefängnisses von Sednaja, nördlich von Damaskus
Bilder von Vermissten am Haupttor des berüchtigten Gefängnisses von Sednaja, nördlich von Damaskus

Bevor Baraa Zeitun über die Vergangenheit sprechen kann, möchte sie für einen Moment alleine sein. Nach ein paar Minuten des Schweigens atmet die 44-Jährige tief durch. »Was ich während eines Jahres im Al-Mudschtahid-Krankenhaus erlebt habe, ist so ungeheuerlich, dass mich auch nur ein kurzer Gedanke daran für den Rest des Tages aus der Fassung bringt.«

Doch die Frau aus Damaskus sieht keine andere Wahl, als zu erzählen, was sie in dem auch als Tischrin bekannten unscheinbaren Gebäudekomplex im Stadtteil Berzeh erlebt hat. »Die meisten Täter von damals laufen frei herum. Wenn die Justiz sie nicht verurteilt, werden die Familien der Opfer sich rächen.« Syrien könne so wieder im Kreislauf der Gewalt versinken.

Wie so viele Syrer war Baraa Zeitun durch Zufall in die Fänge des Regimes geraten. Ihre Mutter litt 2016 an Nierenversagen und wurde zur Dialyse in die zivile Abteilung von Tischrin verlegt. Baraa Zeitun übernachtete häufig auf der heruntergekommenen Intensivstation, ihre Schwester brachte Essen, hielt ihrer Mutter die Hand.

Folter im Krankenhaus

»Auf demselben Stockwerk war hinter einer Metalltrennwand eine Abteilung versteckt, über die niemand reden durfte. Jeden Tag hörten wir von dort merkwürdige Schreie.« Eines Tages sah Zeitun durch einen Spalt im Aluminium, wie Männer von Wächtern in ein Zimmer gepfercht wurden, offenbar Gefangene. Mit Gewehrkolben und Stöcken schlugen die Uniformierten auf sie ein. Von da an beobachtete sie, wie täglich Dutzende verletzte Männer eingeliefert und Leichen abtransportiert wurden.

Nach der Entlassung ihrer Mutter erfuhr sie von Freunden, dass Tischrin die Endstation für Folteropfer aus Gefängnissen der ganzen Stadt war. Offiziell sollten sie dort behandelt werden, doch fast niemand derjenigen, die sie über Monate durch den Spalt beobachte, sollte überleben.

»Die Krankenschwestern auf der Station meiner Mutter schwiegen über die Patienten auf der anderen Seite der Wand«, sie waren Assad-Anhängerinnen. »Aber ihre Bemerkungen über die hygienischen Zustände und die vielen gestorbenen Patienten, ihre traumatisierten Blicke, zeigten, dass auch sie den Horror kaum ertrugen.«

Regime führte Buch über angebliche Gegner

Baraa Zeitun schwieg über die Schreie der Opfer, die sie bis heute oft nicht schlafen lassen. »Hätte jemand geahnt, dass ich heimlich beobachtete, dass immer wieder Tote auf den Gängen lagen, hätte man uns ebenso beseitigt.« Sie begegnete regelmäßig Menschen, die nach ihren Angehörigen suchten. »Man erkannte sie an den Tränen in ihren Augen. Nach Assads Sturz erfuhr ich, dass sie den diensthabenden Ärzten mehrere tausend Dollar zahlen mussten, um die Leichen ihre Söhne oder Ehemänner zu erhalten. Nur um sie zu beerdigen.«

Nach der Flucht Baschar Al-Assads im Dezember verschwanden auch die Ärzte und die Soldaten über Nacht aus Tischrin. Zusammen mit verzweifelten Angehörigen stürmte Mohammad am nächsten Morgen das mehrstöckige Gebäude. Der Aktivist, der seinen Nachnamen lieber für sich behält, war auf der Suche nach den Patientenakten. Das Regime ließ über das Schicksal seiner vermeintlichen Gegner Buch führen. »Wir haben Hunderte Seiten mit genauen Einträgen über eingelieferte Patienten, die Schichten und Namen der Ärzte und die abtransportieren Toten sichergestellt«, sagt er.

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Zusammen mit dem Syria Reporting Center besucht er alle Gebäude, wo angebliche Regimegegner in Damaskus festgehalten und gefoltert wurden. Vor dem berüchtigten Sednaja-Gefängnis fanden sie Bücher mit Namen der Insassen und Angestellten. »Weil das Regime so schnell floh, fielen viele Aufzeichnungen in die Hände der Angehörigen«, sagt der 44-Jährige, »doch die Familien suchten nur nach den Opfern und ließen die Bücher liegen.« Ein Dienstbuch aus Tischrin listet allein für 2016 auf 146 Seiten je 15 eingelieferte Folteropfer auf. So gut wie niemand hinter der Trennwand habe die Klinik lebend verlassen, sagt Baraa Zeitun leise und holt tief Luft.

Juristische Aufarbeitung der Gräueltaten

Lastwagen brachten die Leichen nachts auf die Friedhöfe in Masaken, Al-Zabadani und Al-Tal, berichtet Lawand Kiki, Gründer des Syria Reporting Centers. »Das Regime hat genau Buch geführt, weil die Verhaftungen die Möglichkeit boten, von Verwandten Geld zu erpressen«, sagt Kiki. »Nur mit der genauen Erfassung der Morde konnte man im Präsidentenpalast sicher sein, dass die Gegner tatsächlich tot sind.«

Lawand Kiki sieht in der juristischen Aufarbeitung der Gräueltaten aus fünf Jahrzehnten Assad-Regime die Bedingung für ein neues Miteinander in Syrien. »Nur so kann der Kreislauf der Gewalt gestoppt werden«, sagt er und blättert durch ein Tagebuch, das die Wärter des Sednaja-Gefängnisses im Sommer 2022 geführt haben. Es besteht aus 578 Seiten mit Namen von Inhaftierten.

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