Kaddisch

Klagen und Anklagen – Fragen über Fragen

Was ist die größte Klage? Die größte Klage ist meine Klage. Die größte Klage ist die Klage eines Fremden. Die größte Klage ist die Klage einer Mutter. Die größte Klage ist die Klage eines Königs. Die größte Klage ist die Klage eines Erdwurms. Die größte Klage ist das Geschöpf. Die größte Klage ist Asche. Die größte Klage ist eine, die niemand vernimmt. Die größte Klage ist eine, die plötzlich verstummt. Die größte Klage ist eine, die nicht mehr verhallt.

Wen soll ich beklagen? Die Lebenden oder die Toten? Die Mütter oder die Kinder? Die Schwester oder den Bruder? Die Meinen oder die Fremden? Die Frommen oder die Krummen? Die Verlorenen, die Gefundenen? Die Verzweifelten, die Versehrten? Die Vermissten oder die Einsamen? Die Gefassten oder die Untröstlichen? Die Klagenden oder die Jauchzenden? Die Traurigen oder die Wütenden? Die Schweigenden oder die Stöhnenden? Die Unschuldigen oder die Schuldlosen? Alle oder jedweden?

Was soll ich beklagen? Den Morgen, den Abend? Den Tag, die Jahrzehnte? Sekunden, Äonen? Die Tage Äonen. Was soll ich beklagen? Die Zweige, die Wurzeln? Den Boden, die Häuser? Den Boden, bedeckt von den Knochen der Häuser?

Ezzes von Estis

Alexander Estis, freischaffender Jude ohne festen Wohnsitz, schreibt in dieser Kolumne so viel Schmonzes, dass Ihnen die Pejes wachsen.

Was soll ich beklagen? Den Weltbau oder das Staubkorn, das nichtigste Nichts? Den Schatten, den Widerschein in der Erinnerung? Das Andenken oder den Namen? Die Frage oder die Antwort?

Ich frage meine Erinnerung: Willst du unbewegter Fels bleiben, lebloser Stein, feste Gewissheit? Willst du am Grund des Brunnens schimmern als Silbermünze, als fliehender Zweifel? Oder als letzte Ausflucht, als letzter Mantelknopf dich verbergen auf dem Boden eines Gefäßes, einer tönernen Vase? Vielleicht willst du das Gewebe durchwirken zwischen den schwieligen Fingern des Schneiders oder vielleicht willst du als Kreisel dich drehen im Spiel eines Kindes? Oder willst du das Lispeln von fahlem Licht sein, einer flackernden Flamme über den Blättern der Schrift? Oder willst du der Ton sein sich verfinsternder Tinte? Das Flehen eines kaum vernehmbaren Gebets? Ein Chor vielstimmigen Jammers? Oder Asche im Haar?

Wen klage ich an? Die Sippen oder die Völker? Die Glühenden oder die Verglühten? Die Fliehenden oder die Bleibenden? Die Treuen oder die Untreuen? Die Hoffenden oder die Zweifelnden? Beschützer oder Beschützte? Die Gottlosen oder die Hörigen? Die Ungerechten oder die Rächer? Die Weisen oder die Blöden? Die Wissenden oder die Gläubigen? Die Schwachen oder die Machtlosen? Die Klagenden oder die Kläger?

Was klage ich an? Das Schwert oder die Hand? Die Hand oder das Ohr? Das Ohr oder den Ruf? Den Ruf oder den Mund? Den Mund oder den Wunsch? Den Wunsch oder die Furcht? Die Furcht oder den Tod? Den Tod oder das Schwert?

Was klage ich an? Den Anfang oder das Ende? Die Breite oder die Tiefe? Es ist die Erde nicht tief genug für ein Grab. Den Grund oder die Folge? Den Weg oder die Schritte? Die Antwort oder die Frage? In dieser Klage will ich untergehen.

Was ist das beste Gebet? Der Wille, das ist das beste Gebet. Der Gedanke ist das beste Gebet. Die Trauer ist das beste Gebet. Das Lied ist das beste Gebet. Der Tanz ist das beste Gebet. Der Rauch ist das beste Gebet. Der Mond ist das beste Gebet. Das erste Erwachen ist das beste Gebet. Das letzte Stück Brot ist das beste Gebet. Die Völker sind das beste Gebet. Das beste Gebet ist eines, das du Tag für Tag wiederholst. Das beste Gebet ist eines, das du nie wiederholst.

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