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Unterschätztes Wittenberge: Aufbruch­stimmung an der Elbe

Bei einem Besuch in Wittenberge kann man in alten Industriedenkmalen schwelgen und der Stadt beim Aufblühen zusehen

  • Ulrike Wiebrecht
  • Lesedauer: 6 Min.
Kletterer an der Alten Ölmühle in Wittenberge bei einer Veranstaltung im Rahmen des Summer of Pioneers vor drei Jahren
Kletterer an der Alten Ölmühle in Wittenberge bei einer Veranstaltung im Rahmen des Summer of Pioneers vor drei Jahren

Bossa-Nova-Rhythmen, Caipirinha, brasilianisches Essen: Ende August konnte man sich fast wie an der Copacabana fühlen, als der Stadtsalon Safari in Wittenberge sein Sommerfest feierte. Es gab Live-Musik von der Band um Luís Pardal Freudenthal und neben Grillspezialitäten auch authentische Feijoada mit geröstetem Maniokmehl. Den Bohneneintopf gekocht hatten Jürgen Schmolke und seine brasilianische Frau Ademilsa.

Vor einiger Zeit ist das Paar in die Industriestadt an der Elbe gezogen, jetzt gehören sie zu den Stammgästen des Stadtsalons am Bismarckplatz. Was hat sie in die Prignitz verschlagen? »Wir haben systematisch nach einem Ort gesucht, um aus Berlin rauszuziehen«, sagt Schmolke. Wichtig waren für den IT-Fachmann akzeptable Arbeitsmöglichkeiten mit schnellem Internet und eine gute Verkehrsanbindung. In Wittenberge wurde er fündig. Nicht allein, dass sie in drei Tagen eine Wohnung fanden. Gleichzeitig wurden sie so warmherzig aufgenommen, dass die Brasilianerin meint, sie habe hier in wenigen Monaten mehr Freunde gefunden als in zehn Jahren in Berlin. Und die Lebensmittel, die sie auf dem Wochenmarkt verkauft, würden ihr buchstäblich aus den Händen gerissen.

Tipps
  • Neben konventionellen Stadtführungen, die die Touristinformation anbietet, kann man sich mit dem kostenlosen Audioguide zur Industriekultur der Hearonymus App auf den Weg machen. Außerdem lädt der Natur- und Landschaftsfotograf Mario Herzog zu Foto-Walks durch die Elbestadt mit Besuch des Singer-Uhrturms ein. Informationen zu Kulturangeboten und Arbeiten unter www.stadtsalon-safari.de,www.elblandwerker.de sowie www.wittenberge.de
  • 12 Kilometer-Tour durch die Wittenberger Industriekultur auf Komoot, die zu Fuß oder mit dem Rad absolviert werden kann: www.komoot.de/tour/312592852
  • Im denkmalgeschützten Elbe Resort Alte Ölmühle, kann man nicht nur komfortabel unterkommen, sondern auch im Brauhaus essen, tauchen, klettern und im Loft Spa entspannen (DZ mit Benutzung des Loft Spas ab 145 Euro, www.oehlmuehle-wittenberge.de).

Dabei ist Wittenberge wirklich keine Bilderbuchstadt mit lauschigen Plätzen und Gassen voll hübscher Läden und Cafés, die man gleich ins Herz schließt. Auf den ersten Blick wirkt die Stadt menschenleer und zerrissen. Es fängt schon damit an, dass sie kein richtiges Zentrum hat. Die Gegend um das Stadtmuseum Alte Burg? Oder der Elmshorner Platz, wo das pompöse Rathaus mit der Pickelhaube steht? Am belebtesten ist noch die Bahnstraße, wo auch die meisten Geschäfte sind. Dazwischen sticht das monumentale Kultur- und Festspielhaus heraus. 1959 im Stil des Neoklassizismus errichtet, lockt es mit Musicals, Kabarett, der Eagles-Show oder Jazz im Keller in sein denkmalgeschütztes Inneres. Vor der Fassade laden Bänke unter Bäumen zum Verweilen ein, eine Büste von Paul Lincke erinnert an den Komponisten der Operette »Frau Luna«, der in Wittenberge seine Karriere startete.

Foto-Spaziergänge, die sich lohnen

Doch, doch: Wenn man genau hinsieht, gibt es durchaus die eine oder andere Architekturperle zu entdecken. Nicht zufällig lädt der Fotograf Mario Herzog Interessierte zu sogenannten Foto-Walks ein. Da sind zum Beispiel die Jugendstilhäuser rund um die Johannes-Runge-Straße, die vom wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt um 1900 zeugen. Am schönsten das 1906 erbaute Haus der vier Jahreszeiten, die Fassade ist mit Fliesen und floralen Motiven in grellen Farben gespickt. Wenig später, um 1912, konnte Walter Gropius am Stadtrand mit der Siedlung Eigene Scholle seine Idee des rationellen Bauens verwirklichen – heute ein beliebtes Wohnviertel.

Ausgerechnet das Wahrzeichen der Stadt, der fünfzig Meter hohe Singer-Uhrturm, 1928 als Wasserturm zur Versorgung der benachbarten Fabrik erbaut und einer der größten freistehenden Uhrentürme Europas, ist Symbol eines schmerzlichen Niedergangs. Während man die 192 Stufen erklimmt, die zur Aussichtsplattform führen, lässt eine Dauerausstellung die Geschichte des einst größten Produktionsstandorts für Nähmaschinen in Europa Revue passieren. Rund vierzehn Millionen Geräte liefen in der amerikanischen Singer AG, dem späteren Veritas-Werk, vom Band. Zuletzt gaben sie noch mehr als 3000 Menschen Arbeit. Bis die Fabrikation 1991 stillgelegt wurde.

»Das war ein herber Rückschlag für die Stadt, die jede Menge Arbeitsplätze und Einwohner verlor«, erinnert sich der Stadtführer. Die Bevölkerung hat sich dann von 35 000 auf rund 17 000 halbiert. An vielen Ecken herrschte krasser Leerstand.

Bei diesem Trauerspiel aber wollte es die Stadt nicht bewenden lassen. Und besann sich auf ihre Stärken: die Lage an Elbe und Stepenitz mit Sporthafen und vielfältigen Freizeitmöglichkeiten, am Elberadweg und dem Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe-Brandenburg, die ICE-Anbindung nach Hamburg und Berlin, Grundstücke, auf denen sich Gewerbe ansiedeln kann, und beeindruckende Industriedenkmäler, die auf eine intelligente Nachnutzung warten.

Ölmühle als Anziehungspunkt

Einer der größten Schätze, die um 1823 errichtete Ölmühle von Salomon Herz am Ufer der Elbe, wurde bereits gehoben. Ein komfortabler Hotelbetrieb, ein Brauhaus-Restaurant, ein Loft Spa mit Blick auf die Flusslandschaft, ein Tauch- und ein Kletterturm sowie die sommerlichen Elblandfestspiele bespielen die riesigen roten Backsteingebäude. Im Sommer lockt auch eine Strandbar mit Boots- und SUP-Verleih.

Anfangs waren viele skeptisch. 2006, als die Familie Lange das Areal übernahm, schien ihre Vision, die gigantischen, maroden Gebäude mit einem Mix aus Wohnen, Freizeiteinrichtungen, Gastronomie und Kultur zu beleben, an Hybris zu grenzen. Inzwischen gibt der Erfolg ihnen recht. »Wir sind über das Jahr zu rund achtzig Prozent ausgelastet«, verkündet Geschäftsführer Jan Lange stolz. »Die Gäste bleiben im Schnitt drei bis fünf Tage, was wir unserer jungen Klientel gar nicht zugetraut hatten.« Statt auf Hochzeitsfeiern setzt er jetzt zunehmend auf Erholungsuchende, darunter auch Radtouristen, die auf dem Elberadweg unterwegs sind. Wobei viele Gäste inzwischen nur wegen der Ölmühle nach Wittenberge kommen.

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Von solchen Erfolgsgeschichten kann die Stadt noch mehr vertragen, dachte sich Bürgermeister Oliver Hermann und rief zusammen mit der Wohnungsbaugesellschaft 2019 den Summer of Pioneers ins Leben, der zwanzig Kreativ-Arbeiter zum Probewohnen einlud. Arbeiten konnten sie in einem geräumigen Coworking Space, der auch heute noch Interessenten kostenfrei offensteht.

Aus einem Häufchen digitaler Nomaden haben sich im Laufe der letzten Jahre die Elblandwerker entwickelt – eine Community von etwa dreihundert Menschen. Start-Ups, Freiberufler, Firmen, Prignitz-Rückkehrer und Newcomer, die sich auch über Wittenberge hinaus in Sachen Ansiedlung und Existenzgründung austauschen und vernetzen.

Gemeinsam haben sie den Verein Elbgarten ins Leben gerufen, der ein Gartengrundstück am Fluss bewirtschaftet und den Stadtsalon Safari gegründet hat. Seitdem beleben Spiele-Abende, Lesezirkel, Reparatur-Cafés, Filmvorführungen oder ein veganer Mitbring-Brunch einen leerstehenden Laden am Bismarckplatz. Einmal wöchentlich trifft man sich zum abendlichen Easy Friday. »Wir sind sowas wie das Wohnzimmer der Stadt«, meint Juliette Cellier, die durch den Summer of Pioneers nach Wittenberge gekommen ist und sich jetzt neben dreißig Ehrenamtlichen hauptamtlich um den Kultur- und Begegnungsort hauptamtlich kümmert.

»All das hat das Image und das Selbstbewusstsein der Stadtgesellschaft verbessert, Ideen zur Digitalisierung und Nachhaltigkeit vorangetrieben und Fachkräfte in die Region gebracht«, zieht Christian Soult, Pressesprecher der Elblandwerker, Bilanz. »Obwohl hier immer noch Handwerker oder Gastronomen fehlen.« Dass noch viel passieren muss, weiß auch Bürgermeister Hermann. Sein nächstes ehrgeiziges Ziel ist die Landesgartenschau 2027. »Damit wollen wir vor allem die Innenstadt weiterentwickeln«, erklärt das Stadtoberhaupt.

Eine neue Mitte ist im Wachsen

Dazu soll zum Beispiel die Stadtbibliothek in das ehemalige Kaufhaus Magnet, eine Architekturperle in der Bahnstraße, einziehen und zusammen mit dem Festspielhaus zur neuen Mitte zusammenwachsen. Wichtigstes Projekt ist die Umwidmung des alten Bahnhofs. Bisher macht das riesige Gebäude von 1846 einen tristen Eindruck. Einmal saniert, soll es nicht nur die Gäste der Gartenschau mit seiner auf Hochglanz polierten neoklassizistischen Fassade beeindrucken. Wenn es erst mal das Prignitzer Jobcenter, das Technologie- und Gewerbezentrum und den Coworking-Space der Elblandwerker beherbergt, könnte es auch zu einer Drehscheibe für digital und mobil Arbeitende zwischen Berlin und Hamburg werden. Und für Elblandwerker wie Jürgen Schmolke. »Wittenberge blüht auf«, steht auf einem Banner am Bahnhofsgebäude. Gewiss. Und es macht Spaß, der alten Industriestadt beim Aufblühen zuzusehen.

Die Recherche wurde unterstützt vom Tourismusverband Prignitz und der Tourismus Brandenburg Marketing GmbH.

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