- Kommentare
- Betreutes Lesen
Deutschland-Ticket: Fahrkarte aus der Hölle
Das Deutschland-Ticket ist viel zu sinnvoll. Andreas Koristka fordert seine sofortige Abschaffung
Man stelle sich vor, man zahlte 49 Euro und könnte dafür einen Monat lang in ganz Deutschland den gesamten öffentlichen Personennahverkehr nutzen. Man müsste keine Wabensysteme mehr studieren, sich nicht mehr mit Fahrkartenautomaten herumschlagen und könnte in Kirchen an der Sieg von der Haltestelle Hardtkopfstraße bis zum örtlichen Kaufland fahren, wenn zufälligerweise gerade ein Bus vorbeikäme.
Diese Utopie eines leicht nutzbaren Personennahverkehrs ist in Deutschland leider zur traurigen Wirklichkeit geworden. Damit wurde von der deutschen Politik wahrscheinlich das erste Mal irgendetwas geschaffen, das rundum sinnvoll und vernünftig ist. Dass dies unter der Ägide eines Verkehrsministers Wissing geschah, ist besonders infam und hinterhältig, denn von ihm hätte man so etwas erst recht nicht erwartet.
Nun wurden viele Menschen im Lande der letzten Kontinuität ihres Lebens beraubt. Wenn man heute irgendwo herumsteht und unter Benutzung der unflätigsten Schimpfwörter gegen »die da oben« wettert, dass die Regierung wirklich alles falsch macht, muss man immer mit anfügen: »Außer das Deutschland-Ticket, das haben sie mal ausnahmsweise ganz gut gemacht.«
Andreas Koristka ist Redakteur der Satirezeitschrift Eulenspiegel. Für »nd.DieWoche« schreibt er alle zwei Wochen die Kolumne »Betreutes Lesen«. Alle Texte unter dasnd.de/koristka.
Damit nimmt man den Leuten ihr Ventil zum uneingeschränkten Dampfablassen. Wenn man nicht mal mehr die Chance hat, ohne Wenn und Aber auf die Politik zu schimpfen, was bleibt dann noch vom Leben? Die Menschen werden sich andere Möglichkeiten suchen müssen, um ihre Aggressionen abzubauen. Sie werden anfangen, spielende Kinder im Hinterhof anzuschreien, Tiere zu quälen oder im Berliner Berufsverkehr Rad zu fahren. Deshalb ist es genau richtig, dass schon jetzt über die Abschaffung des Tickets diskutiert wird, weil die Finanzierung nicht geklärt ist.
Man kann nur inständig hoffen, dass dieser Fahrausweis, der direkt aus der Hölle (Tarifverbund HÖL) zu kommen scheint, endlich abgeschafft wird. Denn es geht auch um das Ansehen der Deutschen in der Welt. Deutschland hat einen Ruf zu verlieren. Denn bei uns sind Dinge kompliziert. Dafür werden wir von allen Völkern der Erde geachtet und respektiert. Dank unserer hochkomplizierten deutschen Umwelt haben wir uns Fähigkeiten erarbeitet, um die uns andere Nationen beneiden. Nur Deutsche sind in der Lage, einen Elterngeld-Antrag auszufüllen, eine Einnahmen-Überschuss-Rechnung aufzustellen oder das Gleis 5 auf dem Berliner Hauptbahnhof zu finden. Wir sind spezialisierte Wesen, wie dazu geschaffen, die Grenzbahnhöfe der Verkehrsverbünde auswendig zu lernen, mitsamt den Strecken, die zwar in einem Verkehrsverbund liegen, in dem aber die Karten eines anderen Verkehrsverbundes gültig sind.
Das macht Spaß und man kann sogar Familien-Spiele daraus machen. Wer als erstes errät, welche Fahrscheine welcher Verkehrsverbünde auf der Fahrt von Mirow (Landkreis Mecklenburgische Seenplatte) nach Havelberg (Landkreis Stendal) gelten und ob man die Tickets in den Fahrzeugen oder an den Haltestellen kaufen muss, der darf sich auf der nächsten Fahrt mit der Regionalbahn an die Ostsee auf die letzte freie Treppenstufe des Doppelstockwagens setzen.
Dieser kulturelle Schatz darf nicht verloren gehen. Deshalb muss jetzt schnell gehandelt werden. Die Abschaffung des Deutschlandtickets sollte oberste Priorität im Verkehrsministerium haben. Volker Wissing könnte sich seinen Ruf als uneingeschränkt unfähiger Politiker zurückerobern. Das ganze Land sehnt sich nach diesem erlösenden Moment. Herr Verkehrsminister, nun liegt es an Ihnen!
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.